- Kommentare
- Coronavirus
»Denen da unten« werden nur »die da unten« helfen
Solidarität in der Coronakrise wird nur von denen kommen, die von ihr am stärksten betroffen sind, meint Christopher Wimmer
Die Corona-Pandemie stellt den Kapitalismus vor enorme soziale Herausforderungen. Dessen Widersprüche liegen aktuell so offen zu Tage wie selten. Tagtäglich wird uns vor Augen geführt wie schlecht eine Produktionsweise, deren Zweck der Profit ist, dafür gerüstet ist, Menschenleben zu schützen. Zwar bemühen sich die Regierungen – um Millionen von Todesfällen zu vermeiden –, die Produktion medizinischer Grundausrüstung anzukurbeln, die Zahl der Intensivbetten zu erhöhen, Zwangsräumungen zu stoppen und in einigen Fällen sogar die Unterbringung von Obdachlosen zu ermöglichen. Doch sollten all diese Dinge natürlich immer im Mittelpunkt jeder humanen Gesellschaftsordnung stehen und nicht erst als Effekt einer Pandemie auftreten. Aber im Kapitalismus wird der Schutz von Leben systematisch vernachlässigt – ebenso wie die Umwelt systematisch zerstört wird.
Nun wird der Widersinn einer solchen Art und Weise, unser Leben zu organisieren, unübersehbar.
Ein weitere Erkenntnis scheint sich dieser Tage jedoch auch immer mehr Bahn zu brechen. Der Begriff »systemrelevant« bezieht sich aktuell nicht auf Vorstände, Bankiers oder Fabrikbesitzer. Gemeint sind all die Pflegerinnen, Paketboten, Verkäuferinnen, Erzieher, Hauswirtschafter, Hebammen und Lastwagenfahrer, die – wie man so sagt – den Laden am Laufen halten. Gleichzeitig sind es Menschen in diesen Berufen, die ein deutlich höheres Risiko haben, sich mit dem Coronavirus anzustecken als die Vorstände, Bankiers oder Fabrikbesitzer. Dafür aber werden sie deutlich schlechter bezahlt. Die Statistik sagt, dass die Chance, die Pandemie zu überleben, mit dem Einkommen steigt. Das jahrelang gehörte Mantra – vorgebracht von all jenen Vorständen, Bankiers oder Fabrikbesitzern –, dass sich Leistung endlich wieder löhnen müsse, erweist sich als das, was es immer war: blanker Hohn.
Hohn ist es auch, wenn nun von den Balkonen der oberen Etagen der gesellschaftlichen Hierarchie für »die da unten« geklatscht oder für die Volksmoral musiziert wird. Sicherlich ist symbolische Solidarität besser als keine Solidarität. Aber die Miete bezahlt sich bei 60 Prozent Kurzarbeitergeld auch nicht leichter, wenn der Nachbar die Ode »An die Freude« auf dem Klavier spielt. Wer hat überhaupt ein Klavier und für wen ist das Zuhause ein Ort von Ruhe und Privatheit? Und für wen ist es die dunkle Einraumwohnung im Hinterhaus mit zwei Kindern? Es entblöde sich also bitte niemand mehr zu behaupten, gesellschaftliche Klassen wären verschwunden.
»Die da unten« wussten das schon immer und wehrten sich dagegen. Während der Pandemie kam es weltweit schon zu wilden Streiks von Beschäftigten in Lebensmittelgeschäften, von Busfahrern, Lagerarbeitern bei Amazon oder Angestellten im Gesundheitswesen. Sie alle fordern Schutzausrüstung, Gefahrenzulage und Würde am Arbeitsplatz. Daneben gibt es Bewegungen zur Besetzung leerstehender Wohnungen, zur Koordinierung von Mietstreiks, zur Unterbringung von Obdachlosen sowie Aktionen zur Öffnung der Gefängnisse und Haftanstalten. Dies sind selbstorganisierte Maßnahmen, die Leben vor Profit stellen. Doch ist für Viele die Weigerung, Miete zu zahlen oder riskanter Lohnarbeit nachzugehen, keine Frage der Wahl, sondern pure Notwendigkeit. Wenn solche Notwendigkeiten organisiert werden, können sie zu einer schlagfertigen politischen Kraft werden.
Vom Staat haben die Pflegerinnen, Paketboten, Verkäuferinnen, Erzieher, Hauswirtschafter, Hebammen und Lastwagenfahrer nichts zu erwarten. Die Maßnahmen der Regierungen zielen vor allem darauf ab, den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern. Zwar sollen die schlimmsten sozialen Folgen durch staatliche Eingriffe abgemildert werden, doch hilft dies den Vorständen, Bankiers oder Fabrikbesitzer deutlich mehr.
Die Pflegerinnen, Paketboten, Verkäuferinnen, Erzieher, Hauswirtschafter, Hebammen und Lastwagenfahrer verstehen zunehmend, dass der Kapitalismus sie nicht schützen wird. Stattdessen müssen sie sich auf sich selbst und die praktische Solidarität anderer Menschen der Arbeiterklasse verlassen. »Denen da unten« werden nur »die da unten« helfen.
Christopher Wimmer ist Soziologe und freier Journalist. Er beschäftigt sich mit linker Geschichte und Bewegung. Sein jüngstes Buch »Where have all the Rebels gone?« ist im Unrast-Verlag erschienen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.