Public Girls With Guitars
Ein Streifzug durch die weibliche Popgeschichte
Letztens in der Kneipe. Wir trinken Bier, rauchen und reden darüber, was wir so machen. Ich erzähle von diesem Buch. Und direkt kommt die Frage: Ist Künstlerin X dabei? Nein. Und Künstlerin Y? Nein. Und Künstlerin Z? Nein. Der Freund zeigt sich enttäuscht. Janet Jackson, echt nicht?
Und ja, es ist offensichtlich. Dieses Buch ist unvollständig. Und das wäre es auch noch, wenn es doppelt oder dreimal so dick wäre. Denn - und das ist die gute Nachricht - es gab und gibt da draußen so viele tolle Musikerinnen, dass es einige Kneipenabende bräuchte, um sie alle aufzuzählen. Und mehrere Bücherregale voll. Doch sind these girls, die auf den folgenden Seiten auftauchen, ein Anfang. Ein Einblick in das, was alles möglich ist. Über hundert Lebensläufe (am Ende sind es fast 140 geworden), die von Selbstermächtigung erzählen, von einfach mal machen, von sich durchsetzen in von Männern dominierten Zirkeln, von Spaß, von Sex, von Rebellion oder auch von sich anpassen. Und natürlich vom Musikmachen.
Vor 50 Jahren forderte Aretha Franklin »Respect«, in den Neunzigern rebellierten die Riot Grrrls und heute vermarkten Superstars wie Beyoncé eine sexy Version des Feminismus. Die Charts sind voll mit weiblichen Stimmen, doch bleiben Festivalbühnen, Musikzeitschriften und Clubnächte männerdominiert. Dabei gibt es Role Models an jeder Ecke, in jedem Jahrzehnt, in dem Frauen zu Gitarre, Mikrofon oder DJ-Software griffen. Jede hat ihre eigenen Geschichten.
Es geht um Selbstermächtigung, um Wut, um Gleichberechtigung, um Drugs and Rock’n’Roll, um Sex und Sexualität – und auch mal um Menstruation. Vor allem aber um Musik.
In über 100 lehrreichen, kurzweiligen und persönlichen Texten schreiben Journalistinnen und Journalisten, Musikerinnen und Musiker, Fans und Freunde über Bands, die sie prägten, über Künstlerinnen, die den Feminismus eine neue Facette gaben, über Lieblingsplatten, Lebenswerke und Lieder, die sie mitgrölen – vom Klassiker bis zum Außenseitertipp; schreiben über Björk, Christina Aguilera, Bikini Kill, Billie Holiday, Alice Coltrane, ESG, Georgia Anne Muldrow, Kimya Dawson, Madonna, Patti Smith, Spice Girls, Terre Thaemlitz und viele weitere Künstlerinnen.
Herausgeberin Juliane Streich, 1983 in Berlin geboren, studierte Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder und Journalismus in Leipzig. Sie leitete zehn Jahre lang die Musikredaktion des Leipziger Stadtmagazins »kreuzer«, arbeitet bei MDR Kultur in der Onlineredaktion und schreibt als freie Autorin über Musik, Kultur und Gesellschaft.
Eins haben alle Künstlerinnen gemeinsam: Sie haben andere Menschen mit ihrer Musik bewegt, manche sogar so stark, dass diese anderen Menschen selbst anfingen, Musik zu machen. Das ist eine der vielen Motivationen für dieses Buch: Role Models vorstellen. Denn wie wichtig weibliche Vorbilder für ihr eigenes Schaffen waren, erzählt fast jede Musikerin.
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Nun kann man darüber streiten, wie sinnvoll es ist, den Fokus auf Frauen zu legen, als wäre »Frauenmusik« ein eigenes Genre, und ob es nicht viel besser wäre, in Zeitschriften, Büchern und anderen Publikationen weibliche Künstlerinnen ganz selbstverständlich mitzubehandeln. Klar! Sowieso immer! Hier geht’s aber nun um Einträge in die feministische Geschichte, und die erzählen wir mit Beispielen von Frauen.
Journalistinnen und Journalisten, Musikerinnen und Musiker, Fans und Freunde schreiben über Bands, die sie prägten, über Künstlerinnen, die den Feminismus eine neue Facette gaben, über Lieblingsplatten, Lebenswerke und Lieder, die sie mitgrölen - vom Klassiker bis zum Außenseitertipp. Manche schreiben über ihre persönliche Liebe zur Band, andere über die weltweite Wirkung der Künstlerinnen. Manche Texte sind amüsant, andere lehrreich, viele beides. Manche Autor*innen schreiben mit Gender-Sternchen, andere mit Unterstrich, wieder andere mit Binnen-I. Die einen verstehen Feminismus als private Selbstermächtigung, die anderen als politische Bewegung, die dritten als Support für LQBTs. Und alles ist richtig. Denn die Frau in der Musik, sie ist so vielfältig wie die Musik an sich.
Übrigens: Unter »these girls. der soundtrack zum buch« gibts auf Spotify die Playlist zu den folgenden Seiten.
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Die 1960er
Joan Baez
erste LP 1960
And you’re gonna build a wall,
the big-liest wall, the beautifulist wall
around our borders.
But here’s what I think, you better talk
to a shrink
cuz you’ve got some serious
psychological disorders.
You’ve got dangerous pathological disorders.
Viele Jahre hatte Joan Baez keine eigenen Lieder mehr geschrieben, als sie im April 2017 mit ihrem aufmüpfigen Anti-Trump-Song »Nasty Man« einen Online-Hit landet. Anlass war ganz offensichtlich Trumps Politik. Bereits kurz nach dessen Wahl zum US-Präsidenten engagiert sie sich im Widerstand und steht bei groß angelegten Protestaktionen wie dem Women’s March Anfang 2017 auf der Bühne. Wenige Monate danach stimmt Joan Baez auf dem Sofa in der Küche ihres kalifornischen Refugiums sitzend »Nasty Man« an und singt - mal mit ernster Miene, mal mit einem Grinsen auf den Lippen - über einen Mann auf Abwegen. Das Lied ist sicher keine musikalische Glanzleistung aus der Feder der einstigen »Queen of Folk«, die einen so großartigen Klassiker wie »Diamonds and Rust« über ihre Liaison mit Bob Dylan und mehr als 25 Studioalben, teils vergoldet und Grammy-ausgezeichnet, veröffentlicht hat. Allerdings findet Baez in den wenigen Liedversen deutliche Worte für den US-Präsidenten. Trump ist nicht der erste US-Präsident, dessen Politik Baez während ihrer langjährigen Musiklaufbahn derart scharfsinnig kritisiert; Protest in Liedform zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk. Immer wieder nutzt die Musikerin ihre Auftritte und Konzerte für politische Statements und nimmt bei ihren Plädoyers für gewaltfreien Protest kein Blatt vor den Mund.
Als Tochter eines in Mexiko geborenen Vaters und einer aus Schottland stammenden Mutter wird Baez’ Interesse für die Friedensbewegung und Gewaltlosigkeit frühzeitig geweckt. Der Vater, ein angesehener Physiker, weigert sich, seine Arbeit für die US-Rüstungsindustrie fortzusetzen, weil er in Konflikt mit seinen pazifistischen Überzeugungen gerät und auf Zutun der Mutter tritt die Familie zum Quäkertum über. Gerade einmal 15 Jahre alt ist Baez, als sie 1956 das erste Mal Martin Luther King über Gewaltfreiheit sprechen hört. Kurze Zeit später bleibt sie aus Protest bei einer aus ihrer Sicht unsinnigen Luftschutzübung stur im Klassenzimmer sitzen, während die anderen Schüler*innen regelkonform in die Schutzbunker eilen. Die Lokalzeitung beschimpft sie daraufhin als »Kommunistin«. Drei Jahre später steht Baez auf Geheiß des Folkmusikers Bob Gibson mit zitternden Knien beim Newport Folk Festival auf der Bühne und steigt infolgedessen schlagartig zur Folk-Queen mit glasklarer Stimme auf.
In den 1960er-Jahren wird Joan Baez zur Repräsentantin einer ganzen Protestgeneration. Auch wenn sie selbst kaum eigene Protestsongs schreibt, gilt sie als wichtigste Interpretin genau dieser Lieder. Ihr Name steht gleichbedeutend mit Civil Rights, Aktivismus und Antikriegsbewegung. Als bei ihrer ersten Tour durch die US-Südstaaten nur Weiße im Publikum sitzen, wirkt sie dem bei der darauffolgenden Tour entgegen, indem sie ausschließlich an schwarzen Universitäten auftritt. Sie lernt den noch unbekannten Bob Dylan kennen und entdeckt sofort das aufrührerische Potential seiner Lieder. Sie schleift ihn mit auf die Bühne, um seine Karriere anzukurbeln, und beansprucht seine Songs oftmals noch, bevor er sie selbst performt oder einspielt. An der Seite von Martin Luther King marschiert sie 1963 nach Washington und singt vor einer Viertelmillion Menschen »We Shall Overcome«, bevor King seine berühmte »I have a dream«-Rede hält. In den Jahren danach gründet sie eine Schule für Gewaltfreiheit und lässt kaum mehr eine Möglichkeit zum Protest aus. Nach ihren eigenen Bedingungen setzt sie sich unermüdlich für ein Amerika ein, das sich gegen Rassismus, Chancenungleichheit und Kriegspolitik stellt. Selbst ihren Auftritt bei Woodstock nutzt sie, um über den Vietnamkrieg zu sprechen.
Als sich ihre Schallplatten millionenfach verkaufen, investiert sie einen Großteil ihrer Einnahmen in gute Zwecke wie Amnesty International und behält einen Teil ihrer Steuern ein, um damit nicht die Rüstungsindustrie zu finanzieren. In Grenada, Mississippi, nimmt sie schwarze Schulkinder an die Hand und bringt diese durch den aufgebrachten weißen Mob sicher zur Schule. Bei einem Besuch in der ehemaligen DDR trifft sie sich heimlich mit dem Liedermacher Wolf Biermann und schleust ihn in ein nur für Stasifunktionäre vorgesehenes Konzert. Weihnachten 1972 reist sie als Friedensbotschafterin nach Hanoi und wird dort Zeugin der schwersten Bombenangriffe der US-amerikanischen Luftwaffe im Vietnamkrieg. Tagelang sitzt die damals 31-Jährige in einem Luftschutzbunker fest und singt für die Anwesenden Friedenslieder. Die Grenzen zwischen der Folksängerin Baez und der Aktivistin Baez sind zu diesem Zeitpunkt längst verschwommen: Sie ist der Inbegriff für musikalischen Aktivismus.
»If you are committed to singing meaningful songs, you also have to be committed to leading a life that backs that up«, sagt Baez in einem Interview. Die Lieder, die sie singt, erzählen getreu dem Motto »Music that matters« von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und rücken politischen Schieflagen weltweit zu Leibe. Mit Hilfe ihres Bekanntheitsgrades verschafft sich Baez immer wieder Zugang zur politischen Prominenz - und tatsächlich zeigen ihre mitunter riskanten Auftritte auch Wirkung: 1977 singt sie bei ihrem ersten Liveauftritt in Spanien »No nos moverán« (»We Shall Not Be Moved«), ein jahrelang verbotener Protestsong gegen das faschistische Regime Francos, und verändert damit nachhaltig die Stimmung in der Bevölkerung. Vor einem Auftritt in Brasilien wird ihr einmal ein Zettel mit der Aufforderung zugesteckt, dass sie am Abend in der Konzerthalle auf keinen Fall ans Mikro treten dürfe, sonst würde man sie verhaften. Baez tritt stattdessen in der Mitte der Halle auf, ganz ohne Mikrofon - und singt gemeinsam mit den Menschen im Publikum. Die Polizei schreitet nicht ein.
Auch wenn sich Joan Baez in den 2000er-Jahren zunehmend ins Private zurückzieht, tritt sie weiter regelmäßig bei Protestaktionen wie der Occupy-Bewegung oder gegen die Dakota Pipeline im Standing Rock in North Dakota auf. Sie spielt bei Mahnwachen vor US-Gefängnissen, setzt sich gegen Todesstrafe und Folter ein und unterstützt Kampagnen für die Rechte von Homosexuellen. Jahrzehnte nach ihrem Durchbruch auf dem Newport Folk Festival hat sich an ihrer Grundüberzeugung nichts geändert: »Der Glaube an Gewaltlosigkeit als Lösungsweg für politische, soziale und persönliche Probleme. Ich bin im Moment nicht an vorderster Front. In gewisser Hinsicht ist das nicht mehr mein Platz.« Eine jüngere Generation soll für sie übernehmen.
Juliane Streich (Hrsg.)
These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte
Ventil Verlag, 344 Seiten, kt., 20,00 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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