Wenn schon, dann Löwe!

Zum Tod des Dramatikers und Erzählers Rolf Hochhuth

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Er war der Prediger eines Programms, das er selbst das »elfte Gebot« nannte: »Du sollst nicht schweigen!« Credo eines Mannes, der nur als Kämpfer Leben fühlte. Ein Kämpfer noch spät. Sein letzter Kampf bestand im knorrigen, aufgekratzten Austoben jener folgenlosen Absonderlichkeit, die alten Menschen eigen ist. Rolf Hochhuth war mit den Jahren ein Vergeblichkeitsenthusiast geworden, der einer gewesenen Resonanz nachgrollte, aber trotzdem noch unablässig die Aufregung, die Reibung brauchte und suchte - einzig im Zorn wurde er fühlend. Feindschaften schien er sich sorglicher auszusuchen als Freundschaften. Siegfried Lenz bezeichnete ihn als einen ständigen »Störer des schlimmen Einvernehmens«.

Das Stück »Der Stellvertreter« (1963), von Erwin Piscator in Berlin uraufgeführt, wurde zum größten Skandal des deutschsprachigen Theaters. Der Vatikan als Nazi-Kollaborateur - was damit losbrach, machte Hochhuth weltberühmt. Pater Riccardo, der an seiner Kirche verzweifelt, geht mit selektierten Juden in den Feuerofen des Konzentrationslagers - welches Stück bewirkte je solch ein Beben?! Und wenn er nur dieses eine Schauspiel geschrieben hätte! Genug für einen Nachruhm, dem Beckmesser nie beikommen werden.

Dann die Erzählung »Eine Liebe in Deutschland« und das daraus folgende Stück »Juristen« - es half, Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Hans Filbinger zu stürzen, den Ex-Nazirichter. Wo heutzutage ist Kunst noch ein Attentat, und wo noch sind Theater oder andere Sinn-und-Formgebungen in der Lage, hohle, leere Twin Towers der Konsensgesellschaft zu stürzen?

Worüber er auch plauderte, ob über »schöne Frauenkörper« und erotische Gedichte, über den ungeliebten Nietzsche und das geliebte Fahrradfahren - alles Gespräch führte richtungssicher in den ausstoßgierigen Vulkanismus seiner polemischen Attacken. Er verfasste Schauspiele, die eher Traktate waren, ja: Fakten-Furor. Recherche-Rumor. Ja, auch Papiertrockenheit. Aber ein Papiertiger war er nie. Wenn schon, dann Löwe!

An seinem Erregungstalent prallte immer wieder jener scholastische Eifer der Kritiker ab, ihm ästhetisches Unvermögen nachzuweisen. Hochhuth wollte politisch überzeugen, nicht poesiefein überwältigen. Wahrheit, die zuschlägt; Enthüllung, die Nerven blank legt. Schillers »Wilhelm Tell« nannte er die »Magna Charta des politischen Dramas«. Weil dieser Dichter unbeirrt zum Aufruhr geblasen habe. Und Aufruhr sei so nötig, auch heute - gegen »jedwede Diktatur, wie demokratisch die sich auch maskiert«. Hochhuth: feurig, entschieden, störrisch, in einem ganz gelösten Sinne unbelehrbar. »Effis Nacht«, ein Monolog: Elisabeth Freifrau von Ardenne, Großmutter Manfreds von Ardenne, erzählt ihr Leben. In einer Kriegsnacht wacht sie bei einem sterbenden jungen Soldaten, während britische Bomber über den Ort fliegen. Ein weites Feld, schrieb Fontane (der die Freifrau zum Vorbild seiner »Effi Briest« nahm) und meinte die Liebe. Ein weites Schlachtfeld, sagt Hochhuth und meint die Menschheit.

Dieser Schriftsteller war aristokratisch gesinnt. In überschäumender Geschichtssucht ein Anwalt der charismatischen geschichtlichen Großfigur. Etwa Bismarck. Und Churchill: Das Drama »Soldaten« behandelt den britischen Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung als Verbrechen, bekennt sich aber zur Faszination, die von jenem überragenden Strategen ausging, der Hitler die Stirn bot.

Gegen eine organisierte Bewegung der Entrechteten setzte der Gerechtigkeitsgeist Hochhuths stets die individuelle Courage. Der Dramatiker betrieb trotzig die Beschwörung der vergeblichen Hitler-Attentäter, setzte für Georg Elser in der Mitte Berlins, am Rande des Tiergartens, ein Mahnmal durch. Sein trauriges Fazit des demokratischen Zeitalters: Leider verdumme jeder so nötige Frieden die Leute - indem er blind mache für die lauernden Verhältnisse hinter der Ruhe.

Neben Tell auch Antigone, Judith, Dädalus, Luther, Hemingway - sie alle hat der Autor in seinen Stücken zu Lehrmeistern fürs Akute erhoben. Er prangerte Waffengeschäfte im Mittelmeerraum an (»Lysistrate und die Nato«) und Machenschaften der Blutplasma panschenden Pharmaindustrie: »Ärztinnen« - ein Schauspiel, das auch zu einem DEFA-Film von Horst Seemann wurde. Glänzende Essays schrieb er (Kritik etwa an Brecht, dessen kalter Algorithmik des Klassenkampfes der Sinn fürs Tragische fehle). Sein Ärger: Zum großen Bühnenerlebnis wurde er just dort, wo erfolgreich gegen ihn gehandelt wurde. Denn als der geniale Einar Schleef 1993 am Berliner Ensemble (Hochhuth war Besitzer der Immobilie BE) das Treuhand-Drama »Wessis in Weimar« inszenierte, kam es zum erbitterten Kampf zwischen Regisseur und Autor - am Ende siegte Schleef, er erst brachte den Report-Realismus der Hochhuth-Vorlage wahrhaft zum Glühen.

Hochhuth, Jahrgang 1931, provozierte mit dem Satz, sein eigentlicher Vater und Lehrer sei Hitler gewesen. Eine mutig selbstanklägerische Standortbestimmung - von daher diese Unbändigkeit, die Vergangenheit aufzureißen, sie als lebendigen Dämon in die Gegenwart zu projizieren. Vergangenheit muss uns anschreien, quälen, prüfen. Essayist Gunnar Decker schrieb treffend: Hochhuth sei »ein Machtdenker aus der Schule Machiavellis: ein strenger Ordnungsmensch - mit einem heimlichen Faible für die Anarchie«. Gegen kollektive Enteignungsfantasien setzte der Schriftsteller, was auch Ernst Jünger »wider den Raubtiergeist der Zeit« aufrief: den »Waldgang«. Waldgänger zu sein heißt: zum Rächer zu werden, wenn der Staat das öffentliche bürgerliche Wohl, für das er zuständig ist, selber untergräbt.

2004 veröffentlichte er sein - wahrlich mäßiges - Schauspiel »McKinsey kommt«. Ein Drama über die »Diktatur der Weltwirtschaft«. Plötzlich galt Hochhuth (wieder einmal) als skurriler Fall - weil er globalisierte Wirtschaftsprozesse in den verbrecherischen Status von Vaterlandsverrat erhob. Er hatte den Schurkenkapitalismus beim Namen genannt - »den freilich so zu benennen eine moralische Perspektive voraussetzt, die nirgendwo mehr sichtbar ist«. Schrieb Hochhuth-Herausgeber Gert Ueding. »Schleyer, Ponto, Herrhausen warnen« - so hieß es, unter Bezug auf RAF-Opfer, in »McKinsey kommt«. Die Sachwalter der deutschen Großindustrie schäumten. Böse Miene zum schlechten Stück. Immerhin.

Immer wurde der Sohn eines Eschweger Schuhfabrikanten von der Scham getrieben, zu ungebildet zu sein. So kam zum beseelten Literaten der besessen Fleißige. Und zum geistigen Ketzer kam der komische, nervende Kauz der cholerischen Auftritte. Er war Pfau und Patriarch. Weißes Hemd, das Jackett über beide Schultern gelegt wie einen Militärmantel des höheren Dienstgrades. Gar nicht abwegig, diese Assoziation: Die befehlende Generalität hieß Kunst. Der Traum vom Text: Er möge die Magie eines Putsches haben. Hochhuth als Konfliktfeldherr. Der Kühne immer auch als Kasper - der sehr genau um den Irrwitz der Verwitterung wusste: »Der Mensch wird zu Ende gedemütigt. Beruflich, weil keiner mehr was von ihm will, körperlich, weil er nichts mehr kann.«

Nun ist der Schriftsteller im Alter von 89 Jahren in Berlin gestorben.

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