»Es gibt keine gemeinsame Wahrheit«

Die Menschenrechtsaktivistin Aleksandra Letić über Kriegsfolgen und Versöhnung in Bosnien-Herzegowina

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 5 Min.

An diesem Wochenende ist der 25. Jahrestag des Massakers von Srebrenica. Damals ermordeten serbische Truppen - trotz der Anwesenheit von UN-Blauhelmsoldaten - mehr als 8000 muslimische Bosnier. Das UN-Kriegsverbrechertribunal, der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, hat das Ereignis als Kriegsverbrechen klassifiziert. Wie wird heutzutage in Bosnien und Herzegowina der Opfer von Srebrenica gedacht?

Die Erinnerung an Srebrenica ist ethnisch gefärbt. Die serbische Seite spricht kaum darüber und wenn, dann wird das gegenüber den Serben begangene Unrecht betont. Es wird sogar gesagt, dass der Völkermord in Srebrenica eine internationale gegen die Serben gerichtete Verschwörungstheorie sei und eigentlich gar nicht stattgefunden habe. Damit wird weder der Opfer gedacht noch über die Täter gesprochen.

Die Bosniaken, die muslimische Bevölkerung, leugnen weder den Genozid noch die Lage der Opfer. Aber beide Seiten denken kaum an Versöhnung, vielmehr nutzen sie Srebrenica und das Gedenken daran politisch aus.
Zur Person

Aleksandra Letić ist Programm-Managerin des Helsinki-Menschenrechtskomitees in Bijeljina, Bosnien und Herzegowina, spezialisiert auf Fragen der Aufarbeitungs- und Versöhnungsarbeit im ehemaligen Jugoslawien, wie auch auf dem Gebiet der Transitionsgerechtigkeit über die Grenzen der ehemaligen jugoslawischen Republik hinaus.

Sie war Mitglied der Expertengruppe des bosnischen Ministerrats zur Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Strategie der Transitionsgerechtigkeit. Mit ihr sprach Felix Jaitner.

Die Republika Srpska - neben der Föderation Bosnien und Herzegowina eine von zwei Entitäten und seit dem Krieg mehrheitlich von bosnischen Serben bewohnt - hat 2019 zwei eigene Kommissionen zur Untersuchung von Kriegsverbrechen eingerichtet, darunter auch zu Srebrenica. Milorad Kojić, der Direktor des Zentrums zur Erforschung von Krieg, Kriegsverbrechen und der Suche vermisster Personen sagt, das Ziel der Kommission sei es, »die historische Wahrheit herauszufinden«. Gibt es in Bosnien-Herzegowina überhaupt ein einheitliches Narrativ des Krieges?

Ein gemeinsames Narrativ gibt es nicht. Das sieht man am Bildungswesen. In den Schulen wird über den Krieg kaum gesprochen. Erst recht gibt es keine gemeinsame Wahrheit, sondern eine bosnische, serbische, kroatische und eine internationale Interpretation der Wahrheit und der historischen Fakten. Und die lassen wenig Gemeinsamkeiten zu.

Noch viel gefährlicher sind aber die Halbwahrheiten vonseiten der Politik, der Medien und des Bildungswesens, die sich nicht auf Fakten beziehen, sondern auf Emotionen.

Was meinen Sie mit Halbwahrheiten?

Eine Strategie, die Verbrechen und ihre Täter zu relativieren. Die serbische Seite zum Beispiel geht diskursiv auf die anderen zu und sagt: Srebrenica ist passiert, aber nicht so, wie es international geschildert wird. Es wurden keine 8000 Menschen umgebracht, sondern nur solche, die militärisch Widerstand geleistet haben. Nicht anders ist es auf den anderen Seiten. Das schürt den ethnischen Hass, vor allem unter den Jugendlichen, die oft viel radikaler sind als diejenigen, die am Krieg beteiligt waren.

Das lässt sich in vielen postjugoslawischen Staaten beobachten.

Richtig. Ganz besonders gefährlich ist diese Entwicklung in Bosnien und Herzegowina und in Kosovo, weil es in beiden Ländern schwache Zentralregierungen gibt, sodass diese Halbwahrheiten leichter von staatlichen Institutionen übernommen werden.

Sie waren von 2013 bis 2016 Mitglied der Expertengruppe des bosnischen Ministerrats zur Entwicklung von Transitionsgerechtigkeit. Welche Anstrengungen werden auf staatlicher Seite zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen unternommen?

Es gab eine staatliche Strategie in Bezug auf die Arbeit der Gerichte, die sich mit Kriegsverbrechen auseinandersetzen. In der Expertenkommission haben wir versucht, die Aufarbeitung in anderen Bereichen zu systematisieren. Unsere Vorschläge wurden aber nicht übernommen.

Grundsätzlich hat sich die politische Situation im Land seit 2006/2007 stark verändert. Bis dahin haben vor allem Nichtregierungsorganisationen propagiert, dass die Erinnerung an Srebrenica ein Ausgangspunkt für Versöhnung sein könnte. Aber seitdem ist die Versöhnungsarbeit nicht mehr im Fokus der staatlichen Institutionen, dabei hat sie noch nicht einmal richtig begonnen.

Es gibt aber auch keinen Druck von der Europäischen Union oder einzelnen europäischen Ländern. Viele Anstrengungen, die in Bosnien und Herzegowina unternommen wurden, geschahen vor allem auf internationalen Druck, sie kamen nie aus der Gesellschaft heraus. In dem Moment, als der Druck nachließ, wurden Initiativen unterdrückt oder verloren an Bedeutung.

Welche Rolle spielt das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag im Prozess der Aufarbeitung?

Es besteht kein Zweifel, dass das UN-Kriegsverbrechertribunal notwendig war. Die verantwortlichen Kriegsverbrecher mussten zur Verantwortung gezogen werden, und es war unmöglich, dass das in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien stattfindet. Und es musste ein internationales Zeichen gesetzt werden, dass diese Kriegsverbrechen in Europa nicht toleriert werden.

Aber die Art und Weise, wie das Gericht mit staatlichen Stellen und den Menschen vor Ort kommuniziert hat, war katastrophal. Heutzutage wird das UN-Kriegsverbrechertribunal nicht als Gericht der Versöhnung, sondern der politischen Instrumentalisierung betrachtet - von allen Seiten.

Wie müsste Versöhnung in Bosnien und Herzegowina heute aussehen?

Ich glaube nicht, dass die Versöhnungsinitiativen, die sich nur auf die Überlebenden des Krieges konzentrieren, große Erfolgsaussichten haben. In 20 Jahren Versöhnungsarbeit habe ich gelernt, dass Überlebende von Kriegsverbrechen - egal von welcher Seite - sehr leicht einen gemeinsamen Nenner finden. Die Erfahrung der Überlebenden ist gesellschaftlich immens wichtig, bleibt aber begrenzt, solange im Bildungswesen keine Reformen stattfinden. Der Fokus muss auf den jungen Leuten liegen; diese sind heute oft gewaltbereiter und weniger an einem versöhnlichen Zusammenleben interessiert. Ihre Identität ist religiöser und ethnischer definiert als bei den älteren Generationen.

Unweit von Srebrenica liegt die Stadt Višegrad, die der Autor Ivo Andrić in seinem berühmten Roman »Die Brücke über die Drina« beschreibt. Historisch war Višegrad multiethnisch und multireligiös, seit dem Krieg leben dort fast ausschließlich bosnische Serben. Wie gehen die Menschen mit diesem Verlust an Vielfalt um?

Das Buch von Ivo Andrić ist Pflichtlektüre in der Schule, aber es wird nicht in Bezug auf die 90er Jahre diskutiert. Višegrad hat viele Facetten. Es wird auch kaum über Juden gesprochen, die bis zum Zweiten Weltkrieg in Višegrad gelebt haben. Denn wenn über den Zweiten Weltkrieg gesprochen wird, muss auch über den Krieg in den 90er Jahren gesprochen werden und die schrecklichen Verbrechen, die dort passiert sind - doch darüber wird geschwiegen.

Heutzutage wird in Bosnien eine künstliche, eindimensionale Geschichte geschrieben, in der es nur eine ethnische Wahrheit gibt. Dieser Wahrheit zufolge ist Višegrad eine serbische Stadt, und es werden Kirchen errichtet und christliche Feiertage gefeiert. Diese religiöse und ethnische Identität wird künstlich aufrechterhalten, aber was mit den nicht orthodoxen Menschen passiert ist, die hier einst gelebt haben, wird systematisch verschwiegen. Genauso wie in anderen Teilen des Landes.
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