Umkämpfte Moderne
Wer kennt heute noch Richard Paulick, den »Chefarchitekten der DDR«? Eine Ausstellung im Bauhaus Dessau und ein Buch zeichnen seinen Lebensweg nach. Von Gunnar Decker
Es scheint paradox: Das Bauhaus, Ort radikaler Moderne, hat nun selbst bereits eine ein Jahrhundert währende Geschichte. Ist es also inzwischen eine museale Angelegenheit? Nein, aber es bekommt unweigerlich eine Aura von Tradition, etwas, das dem Prinzip funktionaler Vergegenwärtigung stets fernlag. Das lang tabuisierte Ornament erobert sich mit der Zeit sein Terrain zurück, wie Gras, das über dem Beton wuchert.
Geht man heute durch das leere Bauhausgebäude in Dessau (keine Studenten, keine Lehrkräfte stören derzeit coronabedingt die Kontemplation des Besuchers), bewundert Türgriffe und Lampen, spürt man jederzeit, dass das Neue immer nur eine weitere Überformung des Alten ist - bis hin zu gelegentlichen Paradigmenwechseln und Qualitätssprüngen.
Wie lange das Bauhaus schon in den Kämpfen der Zeit steht, erfährt man etwa aus den Briefen von Hermann Hesses jüngstem Sohn Martin, der 1932 aus der Schweiz nach Dessau ans Bauhaus kam. Er hatte in der Schweiz den sowjetischen Architekten Allenbach kennengelernt, der über »Neues Bauen in Moskau« referierte. Martin Hesse ist fasziniert: Da wird die Zukunft für den neuen Menschen gebaut! Er selbst will Fotograf werden und erwartet sich von Dessau einen solidarischen Geist auch im Umgang der Studenten und Lehrer untereinander.
Seine Enttäuschung ist groß, die Nazis sind überall auf dem Vormarsch, aber hier pflegt man seine Eitelkeiten. »Man hat hier bei vielen Leuten den Eindruck, dass sie Universalgenies seien und in Wirklichkeit ist alles nur oberflächlich.« Sein Fazit: »Mir ist das absolut unsympathisch.« Am 31. August 1932 - noch existiert die Weimarer Republik, aber in Dessau herrscht bereits die NSDAP, vermeldet Martin Hesse seinem Vater in Montagnola, die Nazis hätten das Bauhaus geschlossen: »Sämtliches Personal und die Meister sind auf vier Wochen gekündigt worden, ohne irgendwelche Entschädigung.«
Auch der junge Architekt Richard Paulick, 1903 nebenan in Roßlau geboren, der von 1927 bis 1930 Assistent bei Walter Gropius gewesen war, musste emigrieren. Aber wer kennt heute noch Richard Paulick, den »Chefarchitekten der DDR«? Hermann Henselmann gewiss, auch er ein Grenzgänger zwischen Neoklassizismus und Funktionalismus, zwischen Berliner Stalinallee und Leipziger Uni-Hochhaus, dem eindrucksvollen Wahrzeichen der DDR-Moderne.
Paulick hatte 1926 mit seinem »Stahlhaus« (einem Einfamilienhaus aus Metall) für Furore gesorgt. Bis 1933 arbeitete er in Dessau als selbstständiger Architekt, musste dann auswandern. Er war kein Kommunist, wie man oft hört, sondern einer der Mitgründer der SAP, der Sozialistischen Arbeiterpartei. Eine kleine Partei zwischen KPD und SPD, in der sich vor allem in Sachsen junge Menschen sammelten, um gegen das aufziehende NS-Regime zu kämpfen. Man hielt sich fern von den Stalinisten in Moskau und auch von den allzu sehr dem Legalismus verhafteten Sozialdemokraten. Aber da sie jung und unerfahren waren, hatte die Gestapo meist leichtes Spiel mit ihnen. Der Philosoph Gerd Irrlitz, dessen Vater zur SAP gehörte, hat darüber kürzlich das lesenswerte Buch »Widerstand, nicht Resignation. Eine antifaschistische Widerstandsgruppe der SAP in Leipzig« veröffentlicht. In der DDR passte die unabhängige SAP nicht ins Schema, ihre Existenz wurde verschwiegen - von ihrem Widerstand sollte man nichts erfahren.
Paulick fährt von Venedig mit der »Conte Rosso« nach Shanghai. Dort bekommt er schließlich 1942 eine Professur, arbeitet als Direktor für Stadtplanung im Sinne des Bauhauses und der »organisierten Dezentralisierung«. Weil er auch für die Nationalregierung von Chiang Kai-shek tätig ist, muss er nach dem Sieg der Volksbefreiungsarmee von Mao Tse-tung wiederum das Land verlassen. Auch dieses Kapitel im Leben von Richard Paulick war in der DDR tabu. 1948 will er in die USA emigrieren, wovon ihm Gropius aber dringend abrät. Also zurück nach Deutschland, wo es viel wieder aufzubauen gibt? Wenn ja, wohin: nach West- oder Ostdeutschland?
Unmittelbar nach Kriegsende war Hans Scharoun in der Sowjetischen Besatzungszone der Planer für den Wiederaufbau - im Geiste der modernen Architektur. Doch als Paulick im Frühjahr 1950 in die DDR kam, hatte sich gerade ein Kurswechsel vollzogen - hin zur »Baupolitik der nationalen Form«. Vor dem Hintergrund des doktrinär geführten »Formalismusstreits« galten moderne Kunst und Architektur nun als »kosmopolitisch«, »dekadent« und »amerikanisch«. Jetzt wurde in Berlin im Stile des Neoklassizismus gebaut - wie auch in Moskau oder Warschau. Moderne Geister nannten es Zuckerbäckerstil - die Herrschaft des Ornaments über die Funktion. Der DDR-Philosoph Lothar Kühne hat über diese Fragen von Tradition und Avantgarde in seinem Buch »Gegenstand und Raum« bis heute Gültiges geschrieben.
Auch Paulick sah sich, wie alle Architekten überall auf der Welt, in einem Dilemma gefangen. Bauen im großen Stil ist teuer, bedarf eines Auftraggebers, des Staates. Eine heikle Liaison. Da wird man unweigerlich zum Opportunisten, hofft dabei immer, einige seiner Ideen hineinzuschmuggeln.
In den 60er Jahren kehrt das Bauhaus in den Diskurs zurück, man will auch in der DDR auf industrielle Weise Wohnungsbau betreiben. Nahm nun also endlich die Utopie der neuen Stadt Gestalt an, in der man anders lebt als in der alten, hierarchisch gegliederten, in der sich alles um ein Zentrum gruppiert? Wieder wurden Hoffnungen geweckt - und enttäuscht. Hoyerswerda, Schwedt und Halle-Neustadt wurden für Paulick zu Bewährungsfeldern. Doch von »klar definierten Wohnkomplexen« blieben bloße Blöcke, hergestellt in immer minderer Qualität. Eine Stadt war das nicht, höchstens noch ein Satellit zur Stadt. Oder wie Heiner Müller es sarkastisch formulierte: »Fickzellen mit Fernheizung«.
Das ist ein zentrales Thema jeder Gesellschaftstheorie - Bauen für eine Gegenwart, die doch einen verheißungsvollen Funken in sich trägt. Ein Fenster in die Zukunft! Für die DDR bedeutete das zu fragen, was es heißt, sozialistisch zu leben, zu arbeiten und zu wohnen. Bereits Stefan Heym hat darüber in den 60er Jahren in seinem - lange unveröffentlicht gebliebenen - Roman »Die Architekten« nachgedacht. Brigitte Reimanns »Franziska Linkerhand«, diese Chronik einer Ernüchterung, blieb Fragment. Kurz vor der Wende veröffentlichte Alfred Wellm seinen bedeutenden Roman »Morisco« über einen Erfolgsarchitekten, der - von Ekel über die herrschende Baupraxis getrieben - aus dem Betrieb aussteigt und mit einigen Maurern eine Burg auf dem Lande restauriert.
Thomas Flierl hat ein materialreiches und detailfreudiges Buch zur Ausstellung »Bauhaus Shanghai Stalinallee HaNeu. Der Lebensweg des Architekten Richard Paulick 1903 - 1979« herausgegeben, das viel mehr enthält als die eher spartanische Schau zeigt. Diese beschränkt sich auf ein Dutzend Schautafeln und Vitrinen mit Briefen in einem einzigen Raum - so sitzt die DDR-Architektur immer noch am Katzentisch, auch im Bauhaus heute. Flierl kritisiert, dass die DDR-Architektur nach 1990 als eine »Architektur ohne Architekten« abgefertigt wurde, »ohne Namen, also ohne Gesicht, ohne eigene Geschichte«. Dabei spiegelt sich in ihren Bauten die innere Dramatik deutscher Nachkriegsgeschichte. Veränderungen wurden mühsam erstritten oder scheiterten. Wie Idee und Ideologie ineinander übergehen, ist hier modellhaft zu erfahren.
Auch unsere Gegenwart ist keinesfalls so ideologiefrei, wie sie von sich selbst meint. Wie sonst konnte es sein, dass man für ihre Zeit typische Bauten wie den Palast der Republik, der mehr über das untergegangene Land DDR hätte erzählen können als ganze Geschichtsbücher, eiligst abgerissen hat?
Bilderstürmerei aber, die sich inhaltliche Auseinandersetzung spart und stattdessen unliebsame Zeugen der Vergangenheit einfach abräumt, legt den Keim zu neuem Ungeist. Wenn etwas aus dem respektlosen Umgang mit der DDR-Geschichte zu lernen ist, dann das.
»Bauhaus Shanghai Stalinallee HaNeu. Der Lebensweg des Architekten Richard Paulick 1903-1979«, bis 23. August, Stiftung Bauhaus Dessau, Gropiusallee 38, Dessau-Roßlau.
Thomas Flierl (Hg.): Bauhaus Shanghai Stalinallee Ha-Neu. Der Lebensweg des Architekten Richard Paulick 1903-1979. Lukas-Verlag, 264 S., 200 Abb., br., 30 €.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!