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Hunger und Menschlichkeit
Theatermacherinnen und andere protestierende Kunstschaffende beteiligen sich in Chile am Kampf um den öffentlichen Raum
Militär auf den Straßen, Menschen laufen rasch um Häuserecken - alle tragen einen Mundschutz -, hin und wieder wird jemand kontrolliert. Was vor zehn Monaten noch der Alptraum einer Militärdiktatur war, ist heute bittere Realität in einem Land, dass wie kaum ein anderes von der Corona-Pandemie betroffen ist.
Die Regierung nutzte die neue Ruhe des Lockdown, um sich die Straßenzüge der Innenstadt von Santiago wieder anzueignen. Wände wurden überstrichen und jeglicher Protest im Keim erstickt. Denn im Zuge der Protestwelle vom Oktober 2019, die sich gegen die soziale Ungleichheit im Land richteten, war die Innenstadt zu einem Schauplatz tagelanger Straßenschlachten mit der Polizei, aber auch zu einem Ort des Aufblühens künstlerischen Schaffens geworden. Die Revolte war auch ein Aufstand der Kunst, welche sich als Sprachrohr der marginalisierten Bevölkerungsschichten versteht und gleichzeitig unter extremer Finanznot leidet.
»Kunst und Politik sind in Chile historisch miteinander verbunden«, erklärt der Historiker und Kurator José Caceres. »Während des Kampfes gegen die Militärdiktatur, die von 1973 bis 1989 währte, war die künstlerische Gestaltung von Plakaten oder etwa das Organisieren von sogenannten Peñas - kleinen Konzerten mit Essen - ein zentraler Baustein der politischen Mobilisierung.«
Auch heute lässt sich diese Symbiose gut erkennen. Wenige Wochen nach Beginn der Protestwelle und der harten Repression inszenierte das Künstlerinnenkollektiv Las Tesis die Straßenperformance »Ein Vergewaltiger auf deinem Weg«, welche direkt die Gewalt von verschiedenen Staatsorganen anklagte, insbesondere die Polizei. »Die Performance zeigte eindrücklich die Macht, die Kunst als Form des Protest haben kann«, meint Rocío Linsambarth, »sie hat der Gewalt des Staates eine massive und gleichzeitig friedliche Art des Ausdrucks gegenübergestellt.« Rocío gehört der Theatergruppe Tarea Urgente an, welche seit ihrer Gründung politisches Theater macht und Themen anspricht, die in den traditionellen Medien wenig Raum finden, etwa die Selbstorganisation der Arbeiter*innen unter der sozialistischen Regierung Salvador Allendes.
Die Revolte vom 18. Oktober war in zweierlei Hinsicht auch ein Ausbruch der Kunstschaffenden. »Unser Leben ist extrem prekär. Wir haben weder feste Anstellung noch Sozialversicherung. Mit der Revolte haben wir unsere eigenen Forderungen zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig anderen dabei geholfen.« Tarea Urgente begann Kurzaufführungen an allen möglichen Orten zu machen. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der selbstorganisierten Festivals und der Proteste. Kunst ist für Rocío eine Form des Ausdrucks, welche Menschen verbindet und sowohl politische als auch soziale Forderungen artikuliert. Und genau das war die Revolte vom 18. Oktober, der massive Ausdruck der Unzufriedenheit gegenüber einer kleptokratischen Elite.
Doch dann kam die Pandemie. Als die Regierung sich noch gelassen gab, riefen soziale Organisationen zum Lockdown auf. »Wir haben uns selbst isoliert und gleichzeitig unsere Lebensgrundlage verloren.« Die Künstler*innen waren auf sich selbst gestellt, organisierten Solidaritätsfonds und riefen das Kulturministerium um Hilfe an - doch die blieb aus.
Auch der öffentliche Raum, davor bunt und voller Proteste, geriet wieder in die Hände der Staatsmacht. Schon lange vor dem Lockdown kam eine nächtliche Ausgangssperre. Die Überbleibsel der Proteste auf den öffentlichen Plätzen wurden getilgt.
Präsident Piñera triumphierte auf einem Foto vor der Statue an der sogenannten Plaza de la Dignidad, dem Platz der Würde, dem Ausgangspunkt der Revolte vom Oktober 2019.
Lange Zeit waren die Bewegung und die Kunstschaffenden resigniert. Schon während der Proteste waren die finanziellen Einnahmen eingebrochen, die Pandemie machte den Leuten wirtschaftlich den Garaus. Es ging nun ums eigene Überleben: »Wir zehren von unserem Ersparten, manche Kolleg*innen überleben nur dank den überall entstandenen Suppenküchen«, erzählt Rocío.
Dann kam die Hungerrevolte, Mitte Mai entbrannte die Wut der armen Bevölkerung aufgrund der fehlenden wirtschaftlichen Unterstützung. Im Süden der Hauptstadt gingen die Menschen auf die Straße, währenddessen leuchtete im Zentrum, gleich neben der Plaza de la Dignidad, auf dem Hochhaus der Telefónica, in großen Buchstaben das Wort »Hunger«: eine Kunstinstallation des Künstler*innenduos Delight Lab, welche mit einem Beamer das Wort projizierte. Am zweiten Tag wollte das Duo das Wort »Menschlichkeit« an den gleichen Turm projizieren. Dies wurde allerdings durch große Scheinwerfer verhindert, die auf einem Lastwagen platziert waren und von der Polizei beschützt wurden.
Im Gespräch mit »neues deutschland« erzählt Octavio Gana, der dem Künstler*innenduo angehört, dass sie daraufhin eine große Anzahl Drohungen erhielten, selbst ein Parlamentarier der Regierungspartei Renovación Nacional forderte Ermittlungen gegen das Duo. »Das hat uns gezeigt, welche Macht unsere Interventionen haben. Wir sehen tagtäglich, dass andere Menschen mit Photoshop ihre Forderungen an den Turm projizieren. Diese Mischung aus Virtualität und Präsenz im öffentlichen Raum ist unheimlich wichtig.«
Von diesem Moment an zeigte sich eine neue Form der Kunst, trotz Ausgangssperren versuchen Künstler*innen, sich den öffentlichen Raum wieder anzueignen. Videos werden hochgeladen und auf Häuserwänden gezeigt. Rocío erzählt, dass ihre Theaterstücke mit einem Beamer an die Wände projiziert werden. »Wir versuchen trotz der physischen Distanzregeln wieder da zu sein«, meint sie.
Die Lage bleibt weiterhin prekär: Gegen Las Tesis läuft derzeit ein Strafverfahren wegen Aufrufs zum Hass auf die Polizei. Viele Künstler*innen versuchen, über Crowdfunding und Onlineworkshops an Geld zu kommen. Das Kulturministerium glänzt derweil mit Abwesenheit. »Das ist Zensur«, meint Rocío. »Wir werden nicht nur verfolgt, sondern einfach ausgehungert.« Die Regierung hat die Macht der Kunst begriffen und lässt sie in der Krise fallen.
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