- Politik
- Hiroshima
Eine fatale Verdrängung
Alex Rosen von IPPNW fordert die Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen - jetzt! 75 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki
75 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki sind Atomwaffen immer noch nicht geächtet, im Gegenteil, das atomare Wettrüsten scheint in eine neue Phase eingetreten zu sein - nicht nur zwischen Russland und den USA. Neue Mächte drängen nach. Wie kann das sein? Unvernunft, Dummheit, Machtkalkül?
Vermutlich alles drei und dazu eine gehörige Portion Verdrängung. Nach Ende des Kalten Krieges ist vor allem bei uns in Europa der Trugschluss entstanden, dass damit auch die atomare Gefahr vorbei sei. Das Gegenteil ist der Fall, wie wir jetzt schmerzhaft vor Augen geführt bekommen. NATO-Osterweiterung, Konflikte in und um die Ukraine, gegensätzliche Interessen in der Krisenregion Nahost - all das hat zu einer immer größeren Konfrontation zwischen NATO und Russland geführt.Die Sicherheitsarchitektur, die während des Kalten Krieges mühsam aufgebaut wurde, wird seit Jahren demontiert und die Atomwaffenarsenale auf beiden Seiten modernisiert. Deutschland nimmt über die NATO teil an der atomaren Abschreckung. Während russische Atomwaffen auf Westeuropa und die USA gezielt sind, trainieren deutsche Luftwaffenpiloten den Abwurf der in Büchel stationierten US-amerikanischen Atombomben über russischen Zielen. Die Vorstellung, dass die Androhung eines atomaren Massenmords an der Zivilbevölkerung einer Stadt etwas mit Sicherheit oder Frieden zu tun haben soll, ist doch lächerlich. Atomwaffen wurden konzipiert, um die Zivilbevölkerung des vermeintlichen Gegners auszulöschen. Sie sind nicht mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen und müssen geächtet und abgeschafft werden.
Der Kinderarzt ist seit 2017 Erster Vorsitzender der deutschen IPPNW, International Physicians for the Prevention of Nuclear War ( Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges). Nach Abitur in Erlangen und Zivildienst in Jerusalem hatte er 2000 ein Medizinstudium in Düsseldorf aufgenommen, das er mit der Promotion über das kubanische Impfwesen abschloss. Seit drei Jahren leitet er als Oberarzt die Kindernotaufnahme der Berliner Charité. Rosen ist auch in der Flüchtlingshilfe aktiv und organisierte unter anderem Anti-Atom-Fahrradtouren von Estland und Russland, durch Großbritannien und Frankreich bis nach Pakistan, Indien und Japan. Mit dem Friedensaktivisten sprach Karlen Vesper.
Der INF-Vertrag über die Stationierung von Mittelstreckenraketen und das Open Sky-Abkommen sind bereits gekündigt, einseitig von der Trump-Administration. Im Februar nächsten Jahres läuft der New-Start-Vertrag aus. Wohin steuert die Welt?
Wenn wir es in Europa nicht schaffen, mit Russland wieder eine funktionierende Kooperations- und Sicherheitsarchitektur aufzubauen, dann droht ein Rückfall in die Zeiten den Kalten Kriegs. Nicht die Atomwaffen haben uns in Europa Sicherheit gebracht, sondern die OSZE, die multilateralen Verträge, die gegenseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen, die glaubhaften Abrüstungsabkommen, Rüstungsbegrenzungen, Kommunikationsplattformen. Davon bewegen wir uns derzeit immer weiter weg und das ist angesichts der Vielzahl globaler Bedrohungen töricht und unverantwortlich. Klimakatastrophe, weltweite Pandemien, die Herausforderungen der Globalisierung, das Auseinanderklaffen von Arm und Reich, die verheerenden Folgen des Raubbaus an unserem Planeten und die Ausbeutung des Globalen Süden lassen sich nicht im Alleingang bewältigen. Wir benötigen internationale Partner statt Gegner, wir benötigen Kooperation statt Konfrontation und vor allem braucht es Vertrauen. Schafft es Vertrauen, mit Atomwaffen aufeinander zu zielen?
Was kann die IPPNW, gegründet 1980 von einem sowjetischen Kardiologen und seinem US-amerikanischen Kollegen, dagegen tun? Was besorgte Bürger? Die Zeit der großen Friedensmärsche scheint vorbei zu sein - und zwar nicht nur «coronabedingt. Wenn man heute Leute auf der Straße nach der Pugwash-Bewegung fragt, erntet man Achselzucken. Dabei ist jene von weltbekannten Wissenschaftlern wie Albert Einstein, Bertrand Russel, Max Born und Linus Pauling 1955 im namensgebenden kanadischen Fischerdorf gegründet worden.
Das stimmt. Aber es gibt auch Hoffnung. Ja, die IPPNW wird dieses Jahr 40 Jahre alt und unser Friedensnobelpreis jährt sich zum 35. Mal. Aber gerade vor drei Jahren erhielten wir einen zweiten Friedensnobelpreis für unsere Kampagne ICAN - die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, die 2017 maßgeblich daran beteiligt war, den Atomwaffenverbotsvertrag auf den Weg zu bringen, der von über 120 UN-Mitgliedsstaaten verabschiedet und von über 80 von ihnen bereits unterzeichnet wurde.Das gibt Hoffnung. Dabei sind es vor allem die Nicht-Atomwaffenstaaten in Afrika, in Lateinamerika und in Südostasien, die voranschreiten und sich mit vereinten Kräften den Atomwaffenstaaten entgegenstellen. Die Bevölkerung in diesen Ländern hat begriffen, dass sie es sind, die letztlich am meisten zu verlieren haben, wenn es zu einem erneuten Einsatz von Atomwaffen kommt; dass es vor allem die Länder des Globalen Südens sein werden, die unter den katastrophalen humanitären Folgen eines Atomkriegs zu leiden hätten.
Wissenschaftliche Studien der letzten zehn Jahre konnten deutlich zeigen, dass selbst ein begrenzter regionaler Atomkrieg - zum Beispiel zwischen Indien und Pakistan - weltweite klimatische Veränderungen zur Folge hätte: Aschewolken würden über Jahre hinweg den Himmel verdunkeln und zu noch nie da gewesenen Ernteausfällen führen. Mehr als zwei Milliarden Menschen würden verhungern - nicht in Deutschland oder den USA, sondern in Mali, in Peru oder in Kambodscha. Das globale Interesse an atomarer Abrüstung und konkreten völkerrechtlichen Schritten zur Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen war nie größer als heute. Und das gibt Hoffnung.
Trump reduziert die Anzahl der in Deutschland stationierten US-Soldaten, die nuklearen Sprengköpfe bleiben. Können Sie verstehen, warum hierzulande viele Politiker die US-Truppenreduzierung beklagen, aber Letzteres nicht problematisiert wird?
Verstehen kann ich das. Es hat etwas mit Verdrängung zu tun. Wer will sich schon damit befassen, dass in der Eifel 20 B-61-Bomben liegen, deren Abwurf über russischen Zielen von deutschen Luftwaffenpiloten Jahr für Jahr trainiert wird? Welcher Politiker, welche Politikerin will sich schon die Frage stellen, wie das mit Deutschlands vertraglichen Verpflichtungen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags in Einklang zu bringen ist? Wer will sich schon vorstellen, was diese Waffen konkret anrichten können und für wie viel Leid wir mit verantwortlich wären, wenn diese Waffen jemals eingesetzt werden würden?Ja, verstehen kann ich diese Verdrängung. Akzeptieren kann ich Sie nicht. Es gibt einen Beschluss des Deutschen Bundestages vom März 2010, verabschiedet unter Schwarz-Gelb, wohlgemerkt, der die Bundesregierung auffordert, sich »gegenüber den amerikanischen Verbündeten mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen«. Nur umgesetzt wurde dieser Beschluss in den vergangenen zehn Jahren nicht. Angesichts der aktuellen US-Außenpolitik wäre es höchste Zeit, festzustellen, dass völkerrechtswidrige Massenvernichtungswaffen auf deutschem Boden nichts zu suchen haben. Es ist eigentlich traurig, dass man das überhaupt sagen muss.
1985 erhielt Ihre Organisation den Friedensnobelpreis - für »sachkundige und wichtige Informationsarbeit«. Fühlen Sie sich, salopp ausgedrückt, nicht veralbert, wenn alle Aufklärung über die katastrophalen Folgen eines potenziellen Nuklearkrieges nicht ins Gehör der Mächtigen, sei es bei der UNO, der EU oder den Nationalstaaten, dringt?
Nein, eine neue Generation ist an der Macht, es gibt Milliarden von jungen Menschen, die damals noch nicht auf der Welt waren. Unsere Aufklärungsarbeit geht weiter und muss auch mit der Zeit gehen. Wir müssen unsere Argumente weiter schärfen, anpassen und unsere Botschaft so formulieren, dass sie bei der heutigen Generation von Machthabern genauso ankommt wie damals bei Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, die sich vor allem von den ärztlichen Argumenten überzeugen ließen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen und über atomare Abrüstung zu sprechen. Wir sehen, dass wir mit unserer Kampagne ICAN international, vor allem im Globalen Süden und bei den Nicht-Atomwaffenstaaten, auf dem richtigen Weg sind und in den letzten Jahren weiter gekommen sind auf dem Weg zu einer Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen als je zuvor.
Die IPPNW kritisiert seit Jahr und Tag auch das 50 Jahre alte Abkommen der Internationalen Atomenergieorganisation. Was sind denn Ihre konkreten Kritikpunkte?
Wir kritisieren, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO vertraglich an die Internationale Atomenergieorganisation IAEO gebunden ist und in einer Art Knebelvertrag davon abgehalten wird, unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen zu ionisierender Strahlung durchzuführen. Die IAEO ist als Zusammenschluss aller Atomenergiestaaten eine Art globale Atomlobbyorganisation, die sich gemäß ihrer Charta dafür einsetzt, Atomenergie weltweit zu fördern. Ihr Einfluss auf die WHO ist daher sehr kritisch zu sehen, vor allem, wenn man bedenkt, dass es IAEO-Vertreter waren, die die WHO-Stellungnahmen zu Tschernobyl oder Fukushima maßgeblich verfasst haben.
Sind Ärzte stärker sensibilisiert für die Gefahren nuklearer Katastrophen als Menschen anderer Berufsgruppen?
Ich denke, wir haben uns als Ärzte und Ärztinnen der Gesundheit und dem Wohlergehen unserer Patienten und Patientinnen verschrieben. Wie weit man nun diesen Begriff »unserer Patient*innen« fasst, ist jedem selbst überlassen. Wir in der IPPNW halten es mit Rudolf Virchow, der sagte: »Medizin ist eine soziale Wissenschaft und Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.« Und wir sehen die Weltbevölkerung als unsere »Patienten« und »Patientinnen« an und versuchen, durch politische Einflussnahme an die Wurzeln von Problemen zu gehen, statt stets nur Symptome zu behandeln.Das mag vermessen klingen, aber für eine internationale Organisation mit Zehntausenden Mitgliedern in über 60 Ländern ist es logische Konsequenz aus unserer Geschichte und unserer Erfahrung mit Entscheidungsträgern auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Doch der Einsatz für eine Welt ohne atomare Bedrohung ist keine exklusive ärztliche Aufgabe. Andere Berufsgruppen sind hier ebenso gefragt - unsere Partner bei der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms IALANA, den Parliamentarians for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament PNND, den Wissenschaftlern von Pugwash oder den Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen von Mayors for Peace sind hier exzellente Beispiele. Und über die Kampagne ICAN kann jeder Mensch aktiv mit dazu beitragen, Atomwaffen zu ächten und abzuschaffen.
Kann und sollte man schon Kinder über Hiroshima und Nagasaki und die weiter latent bestehende Gefahr eines Atomkrieges aufklären?
Ja, das muss man sogar. Aber auf kindgerechte Weise und immer verbunden mit konkreten positiven Handlungsmöglichkeiten. Die Hibakusha, die Überlebenden der Atombombenabwürfe, vermitteln seit 75 Jahren von Generation zu Generation von Kindern ihre Erfahrungen mit dem Ziel, dass nie wieder eine Stadt zur Zielscheibe einer Atomwaffe wird, dass nie wieder Menschen das Schicksal erleiden müssen, das sie erlitten haben.Diese Erinnerungskultur ist wichtig, aber Kinder brauchen auch Anregungen und Lösungsvorschläge. Das Ziel muss sein, Kindern aufzuzeigen, wo sie selbst etwas beitragen können, wo sie gebraucht werden und wo sie den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt weitergehen können. Über ICAN versuchen wir, genau diese Anregungen zu geben und im kleinen wie im großen aufzuzeigen, dass jeder Mensch Teil der globalen Kampagne werden kann, um die letzte und schrecklichste aller Massenvernichtungswaffen abzuschaffen. Wenn wir die Waffen nicht vernichten, werden sie uns vernichten.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.