Grüne Dächer gegen Hitze

Auch in Hamburg steigen die Temperaturen, Rot-Grün hat das Klima faktisch zur Chefsache gemacht

  • Volker Stahl
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Asiatische Tigermücke schleppt das Gelbfiebervirus ein, dem Eisbären schmelzen am Nordpol die Schollen unter den Tatzen weg. Winter ohne Eistage und tropische Nächte nehmen ebenso zu wie Starkregen und Extremwetterlagen. Der Meeresspiegel steigt und an den Küsten müssen die Deiche erhöht werden.

Im Norden Deutschlands ist der Handlungsbedarf deshalb besonders dringend. In den kommenden Jahrzehnten wird der Nordpol während einiger Sommer eisfrei sein. »Selbst wenn wir die Emissionen weltweit schnell und deutlich reduzieren und so das Zwei-Grad-Ziel erreichen, wird das Arktiseis trotzdem noch vor 2050 im Sommer immer mal wieder weitestgehend abschmelzen«, erklärt Dirk Notz vom Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit der Universität Hamburg.

Gerade die Hansestadt wird darunter zu leiden haben. Und längst ist der Klimawandel spürbar. Während die Temperatur durch Treibhausgasemissionen weltweit um etwa ein Grad Celsius im Schnitt angestiegen ist, wurde es in Großstädten und Metropolregionen allein im Zeitraum von 1881 bis 2013 um durchschnittlich 1,4 Grad wärmer. Tendenz: weiter steigend. Die Jahresmitteltemperatur in Hamburg könnte sich bis Ende des Jahrhunderts um etwa ein bis fünf Grad erhöhen, ist der Website »Norddeutscher Klimaatlas« zu entnehmen. Von Zeiten, als zu Weihnachten an Alster und Elbe leise der Schnee rieselte, können bald wohl nur noch Urgroßeltern berichten.

Es müsse dringend gehandelt werden, fand die Linkspartei in Buxtehude, scheiterte aber im Juli mit ihrem Antrag, für die niedersächsische Kleinstadt den Klimanotstand auszurufen. Im benachbarten Stade will nun die SPD die kommunale Verwaltung auf Klimaschutz verpflichten. Bereits im Mai 2019 beschloss der Rat in Konstanz eine Resolution zum Klimanotstand. Seither wird jede Sitzungsvorlage auf ihre Klimarelevanz geprüft. Der Oberbürgermeister ging voran, indem er auf seinen Dienstwagen verzichtete.

Ebenfalls seit Mai 2019 befindet sich Tönisvorst in Nordrhein-Westfalen im Klimanotstand, doch »viel Konkretes konnte allerdings bislang nicht vorgelegt werden«, bilanzierte eine Zeitung 15 Monate später. »Ich gebe zu, dass wir in den letzten Jahren auch Fehler gemacht und zu spät gehandelt haben«, ließ sich gerade erst Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vernehmen. Klimaneutralität bis 2050 hat sich die EU als Ziel ausgegeben, und zahlreiche Städte und Gemeinden haben Programme entwickelt.

So hat das Berliner Abgeordnetenhaus im Januar 2018 einen entsprechenden Beschluss gefasst, der 100 Einzelmaßnahmen vorsieht. In München will man sogar schon 2035 klimaneutral sein, wenn bis dahin 87 Vorgaben, die knapp 100 Millionen Euro kosten sollen, verwirklicht sind. Eine Erfolgsmeldung kommt aus Potsdam. Der CO2-Ausstoß sollte bis zu diesem Jahr um 20 Prozent gesunken sein. Einem Klimaschutzbericht zufolge war das Ziel bereits 2017 erreicht.

Lange Wunschlisten gibt es allenthalben. Sehr viel seltener sind zwingende Vorschriften. Die Landeshauptstadt Stuttgart rühmt sich, »Vorreiter beim kommunalen Klimaschutz« zu sein und hat dafür schon 1997 ein Konzept erarbeitet. Eine »Energiewende« ist aber erst von einem im Juli von der Regierung in Baden-Württemberg vorgelegten Gesetzentwurf zu erwarten, wonach ab 2022 alle Neubauten im Land, die nicht dem Wohnen dienen, über Fotovoltaikanlagen verfügen müssen.

Als Metropole am Wasser wird Hamburg darüber hinaus mit den Folgen des Meeresspiegelanstiegs zu kämpfen haben. »Die Folgen des Klimawandels werden hier immer deutlicher. Erste Hinweise darauf, was Mitte bis Ende des Jahrhunderts kommen wird, sind zum Beispiel Hinterlandüberschwemmungen, intensiverer Niederschlag, sehr trockene und warme Sommerperioden«, prognostizierten 2018 Wissenschaftler der Universitäten Hamburg und Bochum.

Am Pegel Cuxhaven-Steubenhöft in der Deutschen Bucht wurde auf Basis von Messungen im Zeitraum von 1981 bis 2019 vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie bereits ein Anstieg um circa 20 Zentimeter pro Jahrhundert errechnet. Die Folgen: ein erhöhtes Sturmflutrisiko und die Verschiebung der Brackwasserzone - der Mischzone von Salz- und Süßwasser - stromaufwärts, mit erheblichen Auswirkungen auf das Ökosystem.

Die Politik habe die Gefahr zur Kenntnis genommen und Einiges unternommen, betont Hamburgs Erster Bürgermeister, Peter Tschentscher (SPD): »Wir sanieren die Schulen und öffentlichen Gebäude, setzen auf emissionsfreien öffentlichen Nahverkehr, investieren in den Landstrom im Hafen und steigen bei der Fernwärme aus der Kohle aus.« Seit 2012 hätten sich die CO2-Emissionen verringert, im Durchschnitt um über 400 000 Tonnen pro Jahr.

Im vergangenen Wahlkampf versprach die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank gar, sie würde den Klimaschutz »zur Chefinnensache machen«, falls die Grünen stärkste Partei werden. Das hat zwar nicht geklappt, doch die alte und neue rot-grüne Regierungskoalition hatte bereits im Dezember 2019 den 2015 von ihr aufgestellten Klimaplan fortgeschrieben und ein Klimaschutzgesetz vorgelegt.

Demnach soll der CO2-Ausstoß bis 2030 in den Bereichen Verkehr, Privathaushalte, Gewerbe, Dienstleistung, Handel und Industrie um 55 Prozent gesenkt werden. Wenn alles klappt, wird 2035 der Strom für Hamburg und das kooperierende Schleswig-Holstein komplett aus erneuerbaren Energien stammen. »Hamburg muss alles tun, um die Menschen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen«, sagt der grüne Umweltsenator Jens Kerstan.

Geplant sind neue Fernwärmenetze mit dem Einsatz erneuerbarer Energien und Abwärme für Neubau- und Bestandsgebiete. Der öffentliche Nahverkehr soll durch eine neue U-Bahn und zwei neue S-Bahnlinien sowie die Verlängerung zweier Strecken gestärkt werden. Radschnellwege sind geplant, und die Alsterschifffahrt soll emissionsfrei werden. »Wir wollen noch in diesem Jahr die Autos aus dem Jungfernstieg herausnehmen«, kündigte Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) in der vergangenen Woche an. Durch die Vernetzung von Grünflächen, den Erhalt und Entwicklung des Baumbestands sowie Dach- und Fassadenbegrünung soll Hitzevorsorge getroffen werden.

»Der Senat wird Milliarden investieren«, verspricht der Umweltsenator. »Wenn wir die Herausforderung entschlossen annehmen, können die Verkehrswende, die Wärmewende und die nötige Modernisierung von Gebäuden, Kraftwerken und Industrie zum Jobmotor und Innovationstreiber für Hamburg werden.«

Hilfreich sei dabei, dass der Stadt die Energieunternehmen und die Energienetze gehören. »Damit machen wir jetzt Klimaschutz, also Vorsorge für zukünftige Generationen - und müssen nicht mehr in erster Linie auf den Gewinn achten, sondern können wirklich die Zukunft und das Klima sichern«.

»Die Daseinsvorsorge, das Gemeinwohlinteresse steht hier stärker im Vordergrund«, erklärt Professorin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Sie lässt das alte Vorteil vom schlecht wirtschaftenden Staat nicht gelten: »Wir wissen auch aus der Wissenschaft, dass kommunale Energieunternehmen und Netzbetreiber genauso effizient und effektiv arbeiten wie private - nur dass sie die Ziele der Energiewende passgenauer umsetzen.«

Mit dem neuen Klimaschutzgesetz wolle der Senat auch die energetische Sanierung von Wohnungen deutlich beschleunigen, sagt Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD). Künftig sollen jährlich je zwei Prozent der mehr als 960 000 Hamburger Wohnungen energetisch modernisiert werden. Derzeit beträgt die Sanierungsquote 0,6 Prozent. Das Ziel Klimaneutralität bis 2050 soll auch mit dem Verbot von Öl- und Stromheizungen erreicht werden.

Gut für die Umwelt, schlecht für die Mieter, befürchtet allerdings der Chef des Mietervereins zu Hamburg Siegmund Chychla. »Alle reden von der Klimaneutralität, aber unsere Forderung, die energetische Gebäudesanierung für die Mieter warmmietenneutral umzusetzen, stößt seit einem Jahrzehnt bei der Politik und der Wohnungswirtschaft auf taube Ohren.«

Die Wohnungswirtschaft reagiert verhalten. »Die energetische Sanierung von Tausenden Wohngebäuden kostet viel Geld und wirkt sich auf die Mieten aus«, sagt Andreas Breitner, Direktor des Verbands Norddeutscher Wohnungsunternehmen. Er bezeichnet eine stärkere staatliche Förderung von energetischen Sanierungen durch Aufbau- und Konjunkturhilfen nach der Coronapandemie als »sinnvollen Schritt, die energetische Sanierung voranzubringen und zugleich den Anstieg der Mieten im Zaum zu halten«.

Die Politik sei immer noch zu zögerlich, kritisieren Umweltverbände. Alexander Porschke vom Naturschutzbund Deutschland NABU, rechnet vor, dass in Hamburg in der jüngsten Baumfällsaison weitere 950 Straßenbäume gefällt wurden - bei nur 674 Nachpflanzungen. Noch weiter geht Manfred Braasch vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland BUND: »Klimaneutralität 2050 ist zu spät, die brauchen wir schon 2035.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.