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Das Leuchten vor der Apokalypse
New Yorker Untergrund und Discounterware aus der Kaufhalle: »Kunst ist für alle da« war das Motto des US-Künstlers Keith Haring, dessen Arbeiten nun im Museum Folkwang in Essen zu sehen sind
Wer Gruppenfotos aus seiner Schulzeit wiederfindet, die zum Beispiel Anfang der 90er Jahre in der sechsten Klasse im Osten Deutschlands gemacht wurden, entdeckt darauf T-Shirts, auf denen sich ziemlich oft Mickey oder Minnie Mouse oder Donald Duck tummeln. Pferde sind ebenfalls zu sehen sowie USA-Schriftzüge. Einige Longshirts sind modisch gepunktet oder mit vermeintlich coolen Sprüchen versehen. In der letzten Reihe könnte zudem ein weißes T-Shirt auffallen, auf das zwei tanzende deindividualisierte und geschlechtslose Figuren in Gelb und Blau gedruckt sind. Auf anderen Fotos, zu anderen Zeiten und an anderen Orten, sind es möglicherweise bellende Hunde, fliegende Untertassen oder ein Baby, das zu strahlen scheint. Die bunten und leicht zugänglichen Motive von Keith Haring (1958-1990) wurden mit kindlichem Stolz herumgetragen, obwohl der Name einem im Alter von elf oder zwölf Jahren noch nichts sagte. Die Kunst von Haring war aber unter uns, bis ein großer Schokoladeneis- oder Ketchupfleck das Kleidungsstück aus dem Schrank verbannte - und somit auch die Kunst.
Die beschriebenen T-Shirt stammten sicherlich nicht aus den von Haring eröffneten Popshops in New York (1986) oder Tokio (1987), sondern waren Discounterware - wahrscheinlich sogar billige Kopien. Wenn Kunst im Supermarkt landet, gilt das oft als Endpunkt einer Verwertungskette. Für Keith Haring wäre es aber vielleicht sogar in Ordnung gewesen. Die jungen Träger*innen kannten seinen Namen und mindestens eine seiner ikonografischen Figuren. Sein Wunsch, mit seiner Kunst ein möglichst großes Publikum zu erreichen, wurde so auch erfüllt - denn »Art is for Everybody« (Kunst ist für alle da) war stets seine Prämisse, die jetzt auch zum Untertitel der Keith-Haring-Ausstellung im Museum Folkwang in Essen wurde. Dieses Credo umfasst nicht nur die Formen der Verbreitung seiner Kunst mittels T-Shirts oder anderer erschwinglicher Merchandise-Produkte, sondern auch die Präsenz seiner Kunst auf öffentlichem, urbanem Terrain und schließt seine Arbeiten für Grace Jones, Madonna, »Vanity Fair« oder Plattencover genauso ein wie für politische und gesellschaftliche Zwecke.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Es ist ein demokratischer Ansatz im Umgang mit Themen und Kulturbereichen. Dieser basiert auf einer weitreichenden Auflösung statischer Gegensätze wie »gut« und »schlecht«, »high« und »low« oder »Gegenkultur« und »Mainstream«. Wenn über Haring geschrieben wird, dass er als Kind der 60er Jahre, geprägt von Undergroundkultur, Raumfahrt, Robotik und Videospielen, die 1960er mit ihren künstlerischen Idealen verlängerte, gilt das auch für seinen demokratischen Ansatz. Das zeigt sich sowohl an den Orten seiner Kunst - Hauswände, schwarz überklebte Plakatflächen in New Yorker U-Bahn-Stationen, Ausstellungen an No-Budget-Schauplätzen oder im New Yorker Club 57 - als auch an den künstlerischen Mitteln: Collagen, selbst gemachte Poster, Kreide für seine Subway Drawings, die gelbe Motorhaube eines Taxis oder Kunststoffplanen, Acryl auf Leinwand oder Kalligrafietinte auf Papier. Was verfügbar war, wurde auch genutzt.
Seine oft großformatigen Arbeiten strahlen durch die Figuren, die stets in Bewegung scheinen, mit den Farben sowie dem scheinbar nie enden wollenden Strich eine Dynamik aus, die den performativen Charakter des Zeichenaktes wie auch den städtischen Trubel gespeichert hat. Eine Ahnung dieser Energie wird in der Essener Ausstellung durch große, farbig leuchtende Wände hergestellt; durch dunkle Räume, die einen hineinziehen sollen in den New Yorker Untergrund; durch vibrierende Musik, die aus dem Bereich klingt, in dem der erste Ausstellungsraum von Haring nachempfunden wird - ein Schwarzlichtraum. Die Sinne sollen erkennen: Es sind die 80er Jahre, Harings Schaffensjahrzehnt, das bunt, grell und laut ist, aber auch ziemlich kaputt. Der neoliberale Ronald Reagan wird US-Präsident, New York an Investoren verschachert, und die Aids-Pandemie beendet unzählige Leben, dünnt Freundeskreise und Gemeinschaften aus. Haring, der stets ein akutes soziopolitisches Bewusstsein hat, transportiert mit Zeichnungen seine Haltung auch zu diesem Thema und gestaltet unter anderem ein Plakat für die Interessengruppe Act Up (Aids Coalition to Unleash Power, AIDS-Koalition, um Kraft zu entfesseln). »Durch seine ikonischen, geschlechtslosen Figuren, gepaart mit leicht verständlichen Referenzen auf Klasse, Ethnie und Sexualität schuf Haring sowohl buchstäblich als auch bildlich eine radikal inklusive Plattform für alles von der Norm Abweichende, Tabuisierte, Verborgene, Nonkonforme und Anormale«, betonen die Kurator*innen Paul Dujardin und Tamar Hemmes.
Es sind die 80er Jahre, Harings Schaffensjahrzehnt, das bunt, grell und laut ist, aber auch ziemlich kaputt. Der neoliberale Reagan wird Präsident, New York an Investoren verschachert, und die Aids- Pandemie beendet unzählige Leben.
Sein persönliches Empfinden aktueller Bedrohung durch die Aids-Pandemie, aber auch durch Krieg und Umweltverschmutzung, verwob Haring in seiner Arbeit »Apokalypse« (1988), die zwei Jahre vor seinem frühen Tod entstand und im letzten Teil der Ausstellung zu sehen ist. Es ist die erste Zusammenarbeit mit dem Beat-Autor William S. Burroughs (1914-1997). Haring reagiert mit zehn dichten Kompositionen auf die experimentellen Texte Burroughs: Scherz und Grausamkeit, Kitsch und Hochkultur, Religion und Sex, Leben und Tod werden eindrucksvoll miteinander verbunden.
Die Ausstellung zeichnet ein vielschichtiges Bild von Keith Haring, der am 16. Februar 1990 im Alter von nur 31 Jahren an den Folgeerkrankungen einer HIV-Infektion starb. Ein Künstler im wahrsten Sinne von Pop: Für ihn war ein T-Shirt ebenso viel wert wie ein Ausstellungsstück; Sex und Politik ebenbürtig; Aufmerksamkeit und Selbstvermarktung zählten für ihn genauso wie Solidarität und Gemeinschaftsdenken.
»Keith Haring«, bis zum 29. November im Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen.
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