Bildungsauftrag gefährdet

Die Personalsituation in den Kitas ist oft miserabel. Kritiker fordern Investitionen

»Viele Kitas in Deutschland können ihren Bildungsauftrag nicht oder nur eingeschränkt umsetzen.« Der Satz der Bertelsmann-Stiftung über die Betreuungssituation klingt lapidar, dahinter verbirgt sich aber Dramatisches: Ein ganzes System ist nämlich im Zuge des Kita-Ausbaus in Schieflage geraten. Zwar sind viele neue Einrichtungen geschaffen worden, jetzt aber fehlen allerorten Fachkräfte, so dass der Betrieb oft einer Mängelverwaltung gleicht. Fast drei von vier Kindern besuchen bundesweit eine Kita oder eine Krippe mit zu wenig Personal. Dies ist das Ergebnis einer am Dienstag vorgestellten Bertelsmann-Studie. Vielerorts schaffen es die Erzieher*innen gerade einmal, auf die Kinder aufzupassen. An pädagogische Arbeit ist dagegen kaum zu denken.

Auf eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft kommen laut der Untersuchung rechnerisch 4,2 ganztags betreute Krippenkinder unter drei Jahren - oder 8,8 ältere Kindergartenkinder. Dabei empfehlen Wissenschaftler*innen, dass ein Erzieher oder eine Erzieherin für maximal drei Kleinkinder in der Krippe oder 7,5 Kinder über drei Jahren zuständig sein soll.

Diese schlechte Betreuungssituation spiegelt sich auch in der Gruppengröße wieder. Eigentlich sollte sie laut den wissenschaftlichen Empfehlungen im Krippenbereich nicht mehr als zwölf Kinder und bei den Älteren nicht mehr als 18 umfassen. Tatsächlich sind aber die Gruppen bei mehr als der Hälfte der Einrichtung größer. »Zu große Gruppen bedeuten für die Kinder und das Fachpersonal übermäßigen Stress, etwa durch Lautstärke«, heißt es in der Studie.

Flankierend zu der Bertelsmann-Untersuchung hat die Fernuniversität Hagen bundesweit Kita-Teams dazu befragt, wie sich der Personalmangel auf die pädagogische Praxis in den Einrichtungen auswirkt. Die Antworten sind eindeutig: Die Erzieher*innen gaben an, weniger auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können, wodurch deren individuelle Förderung in den Hintergrund trete. Eine unzureichende Qualifikation des Personals erschwere die Bildungsarbeit zusätzlich.

Allerdings ist die Situation in den Einrichtungen bundesweit sehr unterschiedlich. So war der Studie zufolge im vorigen Jahr in Bremen eine Fachkraft im Schnitt für drei Krippenkinder verantwortlich, in Mecklenburg-Vorpommern dagegen für sechs Kinder. Bei den älteren Kindern ist die Lage in Baden-Württemberg am entspanntesten. Hier kommen auf eine Fachkraft rechnerisch 6,9 Kinder, während es im Nordosten 12,9 Kinder sind. Insgesamt hat es beim Personalschlüssel in den vergangenen Jahren eine leichte Annäherung zwischen den ost- und den westdeutschen Bundesländern gegeben.

Nach Einschätzung der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat die Coronakrise sich auf die Personalsituation negativ ausgewirkt. Die Bildung kleinerer, konstanter gruppen und der coronabedingte Ausfall von Erzieher*innen habe zu einem weiteren Bedarf an Betreuungskräften geführt, erklärte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle. Die Bundesländer nutzten den Spielraum des Infektionsschutzgesetzes aus, um den Trägern auch geringqualifizierte Betreuungskräfte für die Kitas zu erlauben. »Wir verstehen die Notlage, in den Kitas Personal zu gewinnen«, so die Gewerkschafterin. »Diese darf aber nicht dazu führen, dass fachliche Standards auf Dauer abgesenkt werden.« Erforderlich sei, solche Maßnahmen zeitlich zu befristen und verbindliche Qualifikationen für die Ersatzkräfte vorzusehen.

Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt der Politik, dauerhaft in die Qualitätsentwicklung der Einrichtungen zu investieren. »Das darf jetzt in der Corona-Krise nicht aus dem Blick geraten«, mahnte Anette Stein, bei der Stiftung verantwortlich für den Bereich frühkindliche Bildung.

Die Linke sieht hier den Bund in der Pflicht: »Wir brauchen ein bundesweites Sofortprogramm für mehr und besseres Personal in den Kitas«, erklärte Norbert Müller, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion. Das sogenannte Gute-Kita-Gesetz der Bundesregierung müsse dringend nachgebessert werden. Die Mittel dafür fließen bislang nur bis 2022. Wichtig sei eine Entfristung, sagte Müller, um eine langfristige Unterstützung zu garantieren. Zudem schlug er ein bundesweites Qualitätsgesetz vor, um bundesweit einheitliche Standards in den Einrichtungen festzulegen.

Familienministerin Franziska Giffey wies dagegen die Kritik an der Betreuungssituation zurück: »Millionen Kinder gehen gerne in ihre Kita und werden dort gut betreut und gefördert«, erklärte die SPD-Politikerin. »Es ist nicht richtig, derart gravierende Zweifel an einer kindgerechten Betreuung in den Kitas zu säen.« Kommentar Seite 10

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