Werbung

Wir sind andere Bäume

Der Protest in Belarus hat die Energie des Lebendigen

  • Iryna Herasimovich
  • Lesedauer: 6 Min.

Andere Bäume
Du wolltest, ich wäre grün wie eine Tanne,
Immer grün, im Herbst wie im Winter.
Du wolltest, ich wäre biegsam, wie eine Weide,
würde mich immerzu biegen, ohne aufrecht zu stehen.
Aber ich bin ein anderer Baum.

Das ist ein bekanntes Lied der russischen Sängerin Jelena Kamburova, es begleitet die selbstgemachte Slideshow, mit der sich Juliana Michnewitsch auf Facebook als Schauspielerin vom Janka-Kupala-Theater in Minsk verabschiedet. Mir stehen Tränen in den Augen: Auf den Fotos sind Szenen aus den Stücken, die ich alle gesehen habe, teils noch als Studentin, teils vor kurzem, an einigen habe ich als Übersetzerin mitgearbeitet, etwa an der Aufführung von »Der Bandscheibenvorfall«. In diesem Stück von Ingrid Lausund sind die Figuren der Tyrannei eines Chefs ausgesetzt, der sie bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet, physisch wie psychisch. Bis niemand es mehr aushält, eine Protagonist sagt beispielsweise: »Ich will wieder eine Wirbelsäule, und ich will etwas sein, das wieder grade geht.«

»Der Bandscheibenvorfall« lief mehrere Jahre am Janka-Kupala-Theater, auf der größten und am meisten angesehenen Bühne des Landes. Es ist erstaunlich, wie sehr die Handlung des Stücks dem ähnelt, was die Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters in diesen Tagen erleben. Als Reaktion auf die gefälschten Wahlen am 9. August und auf die Polizeigewalt gegen die friedlichen Bürgerproteste gingen die Schauspieler auf die Straße. Ihnen schloss sich Pavel Latuschka, der Direktor des Theaters an, der früher einmal Kulturminister war. In seiner bewegenden Rede vor Demonstranten auf dem Platz der Unabhängigkeit sagte er, er wolle keine Angst mehr haben, er wolle sein Handy nicht mehr verstecken, er wolle nicht mehr daran denken, ob seine Wohnung abgehört wird, ob man ihn beobachtet, er wolle frei leben. Dieser Wunsch ist im Rahmen des bestehenden Systems in Belarus nicht realistisch. Am nächsten Tag, am 17. August, wurde Latuschka entlassen. Daraufhin kündigten die meisten Schauspieler und Mitarbeiter des Theaters.

Zoya Belachvostsik, eine der wichtigsten Schauspielerinnen des Theaters, sagt, sie hätte sich das nicht mal im schlimmsten Alptraum vorstellen können, aber zu schweigen und auf die Bühne zu gehen, als wäre nichts passiert, das hätte sie nicht gekonnt. Und so nahm auch sie Abschied von dem Theater, mit dem die Geschichte ihrer ganzen Familie verbunden ist: Ihr Großvater, ihr Vater und ihr Ehemann, sie alle gehörten zu verschiedenen Zeiten zum Ensemble.

Auch ihre Tochter Valiantsina Gartsueva hat als Schauspielerin in diesem Theater gekündigt. Ich zögere, soll ich schreiben »sie war Schauspielerin in diesem Theater«? Ich entscheide mich dagegen. Es herrscht ein allgemeines Einverständnis sowohl unter Schauspielern als auch unter dem Publikum: Es gibt keine ehemaligen Janka-Kupala-Schauspieler. Und das Theater ist nicht mehr das Gebäude, in dem es sich offiziell immer noch befindet. Nein, das Janka-Kupala-Theater haben die Schauspieler mitgenommen. Was weiter mit dieser Bühne passiert, ist für alle ungewiss.

Im Staatsfernsehen lief bereits eine schmutzige Propaganda-Reportage, die das Durcheinander im Theater zeigte, kaputte Möbel und Alkoholflaschen in den Mülleimern. Die Zuschauer sollten »erfahren«, was für ein schräges Volk diese protestierenden Schauspieler doch sind. Das hatte allerdings wenig Wirkung, die Schauspieler bekommen Unterstützung von anderen Theaterhäusern im ganzen Land und auch vom Publikum. In einem Video, das auf Facebook zu sehen ist, erzählt der Schauspieler Siarhei Tschub zum Beispiel von einer alten Frau, die ihn auf der Straße anspricht und ihm hundert Rubel geben will, als »Unterstützung in schweren Zeiten«.

Dass gerade das Janka-Kupala-Theater zu einem wichtigen Symbol der kulturellen Protestbewegung werden würde, war Anfang August noch nicht vorstellbar. Dieses Theaterhaus gehört zu den staatlichen Kultureinrichtungen und nicht etwa zur alternativen Szene. Doch die Gewalterfahrungen bei den Protesten gegen das Regime haben in der belarussischen Kulturlandschaft ganz andere Demarkationslinien gezogen. Das Bewusstsein dafür, dass wir in einem System leben, in dem Menschen verschwinden, gefoltert und zu Tode verprügelt werden, hat einen Zustand besonderer Wachsamkeit zur Folge: Man kann sich nicht mehr in eine gemütliche Ecke verkriechen, denn es gibt keine gemütlichen Ecken mehr. Auf den Straßen fallen die am meisten auf, die versuchen, ungestört ihrem Alltag nachzugehen.

Das ganze Land ist zur politischen Bühne geworden. Auf den Straßen spielen nicht nur alternative Musiker wie Ljavon Volski, der schon mehrmals Auftrittsverbot bekam, sondern auch das Orchester und die Solisten des Bolschoi Theaters. Und die Philharmoniker treten Tag für Tag vor ihrem Konzerthaus auf, zu ihnen gesellen sich Dichter und Philosophen mit eigenen und fremden Texten, in denen es um den Menschen, seine Verletzbarkeit und seine Würde geht.

In den letzten Tagen erklingen die Lieder, die man vor der Philharmonie lernen konnte, auch andernorts: Im Einkaufszentrum, in der U-Bahn-Station, auf dem Bahnhof, auf dem Markt. Diese Protestlieder sind nicht kriegerisch, selbst das mit dem Titel »Jagd«, in dem es heißt: »Schlagt sie, schlagt sie ins Herz mit den Schwertern, lasst sie nicht Fremdlinge sein im eigenen Land«, ist kein Aufruf zur Gewalt, sondern soll die Herzen wachrütteln.

Auch das wohl bekannteste belarussische Lied »Kupalinka« birgt ein starkes Protestpotential, weil alle es kennen. Auch die Spezialeinsatztruppen, die die singenden Frauen vor der roten Kirche umringen. Wäre dies eine Szene auf einer Theaterbühne, würde sie bestimmt beste Kritiken bekommen: Ein großer Platz mit konstruktivistischer Architektur, links das Lenin-Denkmal und das Regierungsgebäude, rechts die rote Kirche. Dazwischen ein Reigen: Den äußeren Kreis bilden die Omon-Truppen, und drin stehen die Frauen, die »Kupalinka« singen, das Lied von einer Frau, die Rosen jätet und sich dabei die Hände wund sticht. Im Refrain wird gesungen: »Dunkle Nacht, doch wo ist deine Tochter, Kupalinka?« Die Zeilen wirken heute besonders eindringlich, denn viele Mütter wissen immer noch nicht, wo ihre Kinder sind, die nach den Protesten verschwanden. Kann man durch Singen ein brutales System stürzen? Eher nicht, aber man kann etwas sichtbar machen: Hier sind wir, andere Bäume, die sich nicht mehr biegen, die aufrecht stehen wollen. Und diese Bäume, die aufrecht stehen wollen, verursachen einen Riss nach dem nächsten im Beton des Systems.

Der belarussische Protest trägt etwas naturartiges in sich, er ist wie eine Pflanze, die in viele Richtungen wachsen kann, sie kann groß oder klein sein, manchmal schon fast nicht mehr zu erkennen, um sich dann mit neuer Kraft an die Oberfläche zu wagen. Wie alles naturartige ist der Protest standhaft und verletzbar zugleich, vor allem aber birgt er die Energie von etwas Lebendigem.

Das größte Theater des Landes ist zerstört. Auf mich wirkt das mehr wie ein Neuanfang denn als Verwüstung. Das halte ich erst mal nur fest. Die Frage, ob ich mich in diesem Gefühl irre, wage ich noch nicht zu beantworten.

Iryna Herasimovich ist Übersetzerin, Lektorin und Kuratorin in Minsk

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.