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Normierte Körper, disziplinierter Geist
Mobbing, Drill und Bodyshaming: Mehrere Missbrauchsfälle erschüttern die klassische Tanzausbildung. Läuft etwas grundsätzlich schief an den Ballettschulen?
Florentina Holzingers Blick auf die Tanzkunst ist gnadenlos. Blut spritzt in ihrer gefeierten Choreografie »TANZ«, die lose auf Dario Argentos Horrorfilm »Suspiria« von 1977 beruht. Körper werden zugerichtet, eine alternde Ballettchefin (Beatrice Cordua, Jahrgang 1941, eine der ganz Großen des klassischen Tanzes) treibt junge Künstlerinnen an. Das Geschehen ist brutal, pornografisch, gewalttätig und gleichzeitig faszinierend: Der Tanz, wie Holzinger ihn zeigt, ist ein wüster, kaum erträglicher Drill, das schon, aber es ist auch pure Schönheit, Anmut, Befreiung des Menschen aus dem Gefängnis der Naturgesetze. Und nicht zuletzt ist »TANZ« bei allen abstoßenden Szenen auch die Lust, die man empfindet, wenn man Menschen beobachtet, die etwas wirklich gut können. Ja, Holzinger und ihre Mitstreiterinnen sind überaus talentierte Tänzerinnen, und das sieht man.
»TANZ« ist also gleichzeitig Kritik an den Gewaltstrukturen des Genres wie Hommage an die damit verbundene Virtuosität. Womit Holzinger den Ball zurückspielt ins Feld der Leidtragenden: Ihr liebt das Ballett verständlicherweise, aber durch eure Liebe unterwerft ihr euch den hier vorherrschenden Zuständen. Der Weg zum »Selbst schuld« ist da nicht weit.
Die Basis dieser Zustände liegt in der Ausbildung - es ist kein Zufall, dass das Setting von »TANZ« eine Trainingssituation ist, eine Ballettschule nämlich. Und an zwei renommierten Ausbildungsinstitutionen im deutschsprachigen Raum wurden zuletzt Fälle von Machtmissbrauch öffentlich: Ende vergangenen Jahres gab es Vorwürfe gegen die Wiener Ballettakademie, dass Nachwuchstänzer*innen durch gezieltes Verspotten in Brech- und Magersucht getrieben worden seien. Und im April dieses Jahres mussten die Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin, Ralf Stabel und Gregor Seyffert, ihren Posten verlassen, nach Vorwürfen wegen Mobbing, Sexismus und Bodyshaming. Ob diese Vorwürfe durch die Bank haltbar sind, ist natürlich nicht klar, trotzdem kann man feststellen: An den Ballettschulen läuft etwas schief.
Aber was läuft da überhaupt? Die Ausbildung im Tanz sieht anders aus als beispielsweise im Sprechtheater und in der Oper; sie wird in extrem frühem Alter begonnen, um im besten Fall in eine kurze, schlecht bezahlte Karriere zu münden. Wer nicht als Kind zu tanzen begonnen hat, hat kaum eine Chance; wer nicht mit spätestens zehn Jahren auf ein professionelles Ballettinternat wechselt, kann alle Hoffnung aufgeben, im Anschluss die Aufnahmeprüfung an einer Akademie zu bestehen. Das heißt: Schon in frühester Kindheit sind angehende Tänzer*innen Leistungsdruck und Konkurrenz ausgesetzt, im Wissen, dass sie später weniger Glamour als vor allem harte Arbeit und wenig Anerkennung erwarten. Dazu kommen die körperlichen Anforderungen - Ballett ist Leistungssport, den kaum ein Körper schadlos durchsteht.
Dass solch eine Unterrichtsatmosphäre gerade bei Kindern und Jugendlichen nicht unproblematisch ist, wundert nicht. Nur die Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis sind eigenartig - in vielen tanzpädagogischen Konzepten findet man eine bis ins Absurde reichende Überhöhung der Lehrerpersönlichkeit, als Übertragung des im Ballett verbreiteten Geniekults in die Pädagogik. In Deutschland unterrichten die Ballettschulen meist entweder nach den Lehrplänen der Londoner Royal Academy of Dance oder (häufiger) nach der Waganowa-Methode, entwickelt von Agrippina Waganowa (1879- 1951). Unter anderem George Balanchine, Vaslav Nijinsky und Rudolf Nurejew wurden so ausgebildet.
Waganowa legt einerseits Wert auf die technischen Aspekte des klassischen Tanzes, also die Stärkung der unteren Rückenmuskulatur sowie Kraft, Beweglichkeit, Ausdauer - was auf lange Sicht eine Normierung der Tänzer*innenkörper zur Folge hat, eine Normierung, die notwendig ist, um diese Anforderungen zu erfüllen. Auf der anderen Seite betont die Waganowa-Methode die Rolle der Lehrkraft: Der Unterricht kann nur erfolgreich sein, wenn diese eine unhinterfragbare Bezugsperson für die Schüler*innen darstellt. Waganowa wendet hier einen reformpädagogischen Ansatz auf den Tanz an, und wenn man an die Anfälligkeit der Reformpädagogik für Missbrauch denkt, wird die Gefahr deutlich, die in dieser Verengung auf eine Ausbildungsmethode liegt. Man führe sich das noch einmal vor Augen: Ein sehr junger Mensch wird in eine von Anspannung, Stress und Konkurrenzdenken geprägte Situation geworfen, ist womöglich das erste Mal weg von zu Hause, weiß, dass die Zukunft alles andere als rosig werden wird - und ist darüber hinaus einer als gottgleich verehrten Bezugsperson ausgeliefert.
Die renommiertesten deutschen Ausbildungsstätten für klassischen Tanz sind neben der schon erwähnten Staatlichen Ballettschule Berlin die John-Cranko-Schule (Stuttgart), die Ballettschule des Hamburg-Balletts, die Ballett-Akademie München und die Palucca-Hochschule (Dresden) - an allen fünf wird nach der Waganowa-Methode gelehrt. Zeitgenössische Alternativen bieten unter anderem die Folkwangschule in Essen und die Hochschule für Musik und Tanz Köln, allerdings hat man es hier mit einem anderen Genre zu tun. Ein Stück wie Florentina Holzingers »TANZ« funktioniert nur, weil man bei allem Entsetzen über Qual und Demütigung spürt, wie wichtig der Choreografin das Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts ist - »TANZ« ist kein zeitgenössisches Stück, auch wenn die bilderstürmerische Haltung dahinter zutiefst zeitgenössisch ist.
Ein hierarchiehöriges »Disziplin gehört zum Selbstverständnis der Studierenden, umgesetzt in einer Arbeitsatmosphäre, die inspirierend wirkt und die persönliche Selbstfindung fördert« hallt dabei durch die Münchner Schulgebäude: Hier herrschen Zucht und Ordnung! Wohltuend hingegen der betont nüchterne Zugriff des Hamburger Ballettintendanten John Neumeier in der Beschreibung seiner Schule. Die sei eine Ausbildungsstätte, »die beides in sich vereint: eine fundierte, in gewissem Sinne neutrale, klassische Ausbildung« einerseits und »persönliche Prägung« (angeschlossene Compagnie) andererseits. Eine Überhöhung des Choreografen und Lehrers steht in Hamburg zumindest nicht im Mittelpunkt.
In Dresden immerhin hat man das Problem erkannt und modifiziert die Ausbildung: »Der klassische Tanz ist traditionell sehr hierarchisch durchdrungen, verbunden mit stark normierten physischen Anforderungen und einer oft rigiden Struktur in der Technik, sowohl in den choreografischen Prozessen als auch in den Mentalitäten«, schreibt die Palucca-Hochschule in ihrem öffentlichen Auftritt, verbunden mit dem Hinweis, dass das klassische Bewegungsrepertoire hier mit modernen Formen kombiniert werden soll: »Im Mittelpunkt der Ausbildung steht das Individuum mit den ihm eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.« Im Vergleich zum normierten Körper, wie ihn Waganowas Ballett verlangt, ist das eine Revolution.
Wobei auch die Dresdner Aussage erst einmal eine Absichtserklärung ist, die Missbrauch noch lange nicht verhindert. Ob aus dieser Betonung des Individuums tatsächlich eine veränderte Ausbildung resultiert, bleibt abzuwarten, gleichwohl: Die Palucca-Hochschule scheint erkannt zu haben, dass sich etwas ändern muss, ohne die Traditionen des klassischen Balletts gleich vollkommen dem Zeitgenössischen zu opfern. Denn das Bewegungsrepertoire, die Sehnsucht nach Anmut, das Beharren auf dem Ballett als den Naturgesetzen enthobene Körperkunst, das sind nicht zuletzt utopische Modelle - denen das Beharren auf Heutigkeit letztlich keine Alternative entgegensetzen konnte. Anders gesagt: Ab den 1970ern entwickelte sich das Tanztheaters zur prägenden zeitgenössischen Tanzform, aber das klassische Ballett existiert weiterhin. Wenn auch immer wieder mit Stücken, die sich mit dem hier gepflegten Drill kritisch auseinandersetzen, mit Stücken wie Florentina Holzingers »TANZ«. Um sich an den Abgründen des Genres zu reiben, braucht es eine Kenntnis des Tanzes.
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