»Ich will die CDU nicht von einer Mitschuld freisprechen«

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, über vergessene Glücksgefühle, Versäumnisse seiner Partei und die Frage, ob er mehr Beschwichtiger als Streiter ist

  • Max Zeisig
  • Lesedauer: 6 Min.

Herr Wanderwitz, aus dem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit geht hervor, dass die Wirtschaftskraft in den ostdeutschen Bundesländern seit 30 Jahren zwar kontinuierlich wächst. Aber seit 1995 sind wir von knapp über 70 Prozent des Bundesdurchschnitts jetzt erst bei knapp 80 Prozent angekommen. Warum geht es nicht schneller?

Die ostdeutschen Länder sind zumeist relativ dünn besiedelte Flächenländer mit einer ungünstigen Demografie. In den alten Bundesländern gibt es solche Regionen auch, aber dort gibt es auch extrem dynamische Wachstumskerne. Ich persönlich glaube, dass es deshalb mittelfristig völlig unmöglich ist, diese 100 Prozent West zu erreichen. Weil es diese großen Kerne im Osten nicht gibt und auch auf Sicht nicht geben wird.

Im Interview

Marco Wanderwitz, 44, ist seit Februar 2020 Ostbeauftragter der Bundesregierung. Der CDU- Politiker trat die Nachfolge von Christian Hirte an, der zurücktreten musste, nachdem er Thomas Kemmerich (FDP) zu dessen Wahl zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit den Stimmen der AfD gratuliert hatte.

Bereits vor seinem Amtsantritt hatte sich Wanderwitz deutlich von der AfD abgegrenzt. Er bezeichnete die Rechtsradikalen auf Twitter einst als »giftigen Abschaum« und deren Fraktionschef Alexander Gauland als »kranken Mann, zerfressen von Hass und Dummheit«. Vor zwei Wochen legte der Ostbeauftragte den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit vor. Darin kommt er zu dem Schluss, die Unterschiede zwischen Ost und West würden immer geringer. Vor dem 30. Jahrestag der Wiedervereinigung sprach Max Zeising mit dem CDU-Politiker.

Foto: dpa/Christophe Gateau

Auch die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West sind nach wie vor gewaltig. Die fünf ostdeutschen Flächenländer und Berlin sind hier weiterhin die Schlusslichter, zuzüglich des Saarlands. Wie kommen Sie zu der Feststellung, dass es in vielen Bereichen kaum noch messbare Unterschiede gebe?

86 Prozent sind 14 von 100 entfernt. Das ist ein messbarer Unterschied, aber ich würde ihn nicht als gewaltig bezeichnen. Diese Unterschiede kommen zum Beispiel dadurch zustande, dass die Tarifbindung im Osten geringer ist, dass es die tarifgebundenen, gut bezahlten Arbeitsplätze im Osten in geringerer Zahl gibt.

Sie sagten bei der Vorstellung des Jahresberichts zudem, die Ost- und Westdeutschen müssten sich das »Glücksgefühl« der Wende wieder stärker vor Augen führen. Ist das nicht eine Verklärung von Fakten durch Emotionalisierung?

Ich erlebe derzeit ein aus meiner Sicht teilweise zu positives DDR-Bild. Natürlich gab es Dinge, die zu DDR-Zeiten ziemlich gut aufgestellt waren, wie im Bereich Kinderbetreuung und Bildung. Im Nachhinein verklären sich oft Dinge. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen: Wo standen wir 1989? Ganz viele Menschen wollten Reisefreiheit, freie Wahlen, unabhängige Gerichte, keine politischen Gefangenen, eine gesunde Umwelt, den Wohlstand des Westens. Das haben wir teilweise vergessen, weil wir das nun alles weitestgehend haben.

Die Entwicklung des Arbeitsmarktes in Ostdeutschland wurde entscheidend von der Abwicklung der Ostbetriebe durch die Treuhand geprägt. 3700 Betriebe wurden stillgelegt, fast zwei Drittel der Arbeitsplätze gingen dadurch verloren. Bis 1993 sank die Zahl der Erwerbstätigen in Ostdeutschland von 9,7 auf 6,2 Millionen. Warum haben Sie dem wichtigen Thema Treuhand im 284 Seiten starken Jahresbericht nur drei Seiten gewidmet?

Man hätte damals gewisse Dinge besser machen können. Vor allem mit der Klugheit der Rückschau. Aber es war ein Weg ohne Blaupause. Es hat nicht so viele große Fehler gegeben, wie mancher unterstellt. Die Transformation einer maroden sozialistischen Planwirtschaft in eine konkurrenzfähige Marktwirtschaft konnte gar nicht ohne riesige Brüche gehen, wie man auch in ganz Ost- und Südosteuropa sehen konnte. Der überlebensfähige Teil der DDR-Industrie hat überlebt, der andere nicht. Das muss ich dann nicht auf 13 Seiten darstellen, das kann ich auch auf drei Seiten erklären.

Sie heben im Treuhand-Kapitel positiv hervor, dass in Ostdeutschland eine schnelle Modernisierung stattfinden konnte. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele Menschen harte Brüche in ihren Biografien erlebten. Wie gehen Sie mit solchen Brüchen um?

Ich bin froh und dankbar, dass ich zu einer Gewinnergeneration der Einheit gehöre. Ich sehe aber auch in der Generation meiner Eltern diese brutalen Brüche und was diese Transformation mit Menschen gemacht hat. Das war eine sehr herausfordernde Zeit, und die dauerte 20 Jahre. Das steckt in den Knochen, bei manchen wohl ein Leben lang. Ich habe viel Verständnis für Leute beispielsweise in der Lausitz, die sagen: Ich kann das Wort Strukturwandel gar nicht mehr hören.

Nach wie vor sind Ostdeutsche stark unterdurchschnittlich in Führungspositionen vertreten. Auch in der politischen Verwaltung sieht es nicht besser aus: So kommen nur vier von 133 Abteilungsleitern in Ministerien aus dem Osten, ergab eine Anfrage der Linkspartei im Bundestag. Wie wollen Sie diese Repräsentationslücke schließen?

Ich finde das hochproblematisch, und das treibt die Leute völlig zu Recht um. In allen nachgeordneten Bereichen, in der zweiten oder dritten Führungsebene, ist der Anteil der Ostdeutschen aber deutlich besser, weil dort jüngere Leute sind. Wir haben relativ wenige Ostdeutsche in der ersten Reihe, die deutlich über 50 sind und nicht dem vorbelasteten Teil des ehemaligen Systems angehörten, den wir in der öffentlichen Verwaltung auch nicht haben wollten. Wir arbeiten sehr intensiv daran, dass die mittleren und jüngeren Generationen die Lücke schließen können.

Aus dem Jahresbericht geht hervor, dass die Zustimmung zur Demokratie in Ostdeutschland geringer ausgeprägt ist als im Westen. Sie sprechen von mangelnder politischer Bildung als Hauptursache. Ist es nicht eine Anmaßung gegenüber den Ostdeutschen, ihnen auch noch 30 Jahre nach der Wende vorzuhalten, sie hätten die Demokratie einfach nicht verstanden?

Das ist meine Einschätzung, und das müssen meine Landsleute denn auch erdulden. Niemand von uns wusste damals: Wie funktioniert Demokratie? Wie funktioniert soziale Marktwirtschaft? Es wäre gut gewesen, mehr in politische Bildung zu investieren. Ich erlebe regelmäßig Leute, ältere der noch erwerbsaktiven Jahrgänge zumeist, die mit einem gerichtlichen Urteil in meiner Bürgersprechstunde aufschlagen und sagen: Herr Wanderwitz, jetzt müssen Sie mir helfen. In einem Rechtsstaat gibt es aber Gewaltenteilung. Wenn du in letzter Instanz verloren hast, kann dir kein Politiker helfen. Früher hätte der Chef der SED-Kreisleitung den Richter einbestellt. Es ist gut, dass es jetzt anders ist.

Könnten die geringeren Zustimmungswerte nicht auch daher kommen, dass Ostdeutsche in der Demokratie zuerst Treuhand-Abwicklungen und massive Arbeitslosigkeit erlebt haben?

Das ist sicher ein Punkt. Ich kann aber nicht akzeptieren, dass Menschen dann zumachen, die AfD wählen und wieder einen Führer wollen. Es ist ein unzulässiger Schluss, die einzig sinnvolle Gesellschaftsform, die Demokratie, für in Gänze untauglich zu halten.

Sie benennen Rechtsextremismus als großes Problem in Ostdeutschland. Das ist unbestritten der Fall, schaut man sich beispielsweise die AfD-Wahlergebnisse an. Vielerorts gibt es aber auch Menschen, die sich dem Rechtsruck entgegenstellen, die aber mangelnde Unterstützung seitens der Politik beklagen. Können Sie das nachvollziehen?

Ich bin durchaus selbstkritisch mit meiner Partei. Die Union hat zu lange nicht mit der gebotenen Klarheit, mit dem gebotenen Nachdruck reagiert. Auf der anderen Seite: Mit Linksradikalen Rechtsradikale zu bekämpfen, ist keine Lösung für die gesellschaftliche Mitte.

Ist die CDU also mit schuld am Rechtsruck im Osten?

Ich will die CDU nicht von einer gewissen Mitschuld durch Unterlassen freisprechen. Wir hätten viel früher, viel intensiver draufgehen müssen. Manch einer wirft uns aber vor, wir hätten das bewusst befördert, nach dem Motto: lieber rechts- als linksradikal. Das weise ich in aller Schärfe zurück. Das stimmt nicht.

Der Ostbeauftragte der Linksfraktion im Bundestag, Matthias Höhn, hat den Jahresbericht als »Gefälligkeitsgutachten« bezeichnet. Sind Sie einer, der gefallen, der bloß nicht anecken will? Ein Beschwichtiger statt Streiter?

Ich versuche, einen Bericht zu machen, der eine gewisse Breite hat, der aber auch die gefühlte Lebenswirklichkeit der Mehrzahl der Menschen erreicht. Und die Mehrzahl der Menschen wählt nicht Linkspartei und ist nicht ganz so unzufrieden.

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