Werbung

»Man kann sich vor dem Virus nicht einsperren«

Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow plädiert für einen stärkeren öffentlichen Gesundheitsdienst

Die Corona-Infektionszahlen steigen deutlich an, viele Bundesländer wollen keine Touristen aus Risikogebieten mehr übernachten lassen - oder nur mit negativem Test. Thüringen schließt sich dem nicht an. Warum halten Sie Beherbergungsverbote für falsch?

Wir haben ein bundesweit geltendes Infektionsschutzgesetz. Diesem Gesetz zufolge ist die zuständige Stelle das jeweilige Gesundheitsamt. Wenn es anordnet, dass Menschen eine Region nicht verlassen oder betreten dürfen, dann halte ich mich selbstverständlich an die Regeln. Und wenn das Amt Quarantäne anordnet, dann wird das durchgesetzt. Was nicht geht: Empfehlungen des Gesundheitsamtes nicht zu folgen. Im Falle Gütersloh hatte sich das Gesundheitsamt auf den Schlachtbetrieb Tönnies konzentriert. Dann aber gleich allen Menschen, die dort leben, das Reisen zu verbieten, das geht zu weit.

Bodo Ramelow

Der Linke-Politiker und Ministerpräsident von Thüringen setzt bei der Bekämpfung des Coronavirus eigene Akzente. Beispielsweise begann das Land früher als viele andere mit Lockerungen der strengen Maßnahmen vom Frühjahr. Jetzt lehnt Ramelow ein generelles Übernachtungsverbot von Urlaubern aus Risikogebieten ab. Wolfgang Hübner fragte ihn nach den Gründen.

Trauen Sie angesichts der steigenden Infektionszahlen den Gesundheitsämtern bundesweit zu, dass sie die Lage in ihren Regionen im Griff haben?

Ich vertraue darauf, dass Länder und Bund die Gesundheitsämter so ausstatten, dass sie handlungsfähig sind. Als das in einem Amt in Thüringen nicht gegeben war, haben wir von der Bundeswehr Hilfe angefordert und sofort Unterstützung durch eine Stabsärztin und zwei Hygieniker erhalten. Auch das Universitätskrankenhaus Jena und das Robert-Koch-Institut haben geholfen. So kann das jedes Bundesland dort organisieren, wo die Zahlen steigen.

Damit das System deutschlandweit funktioniert, sollten wir stärker über den öffentlichen Gesundheitsdienst reden. Und die Erfahrungen, die wir seit Monaten sammeln, in Konzepte ummünzen, damit wir nicht nur dieses Coronavirus abwehren, sondern auch für künftige Fälle gewappnet sind. Wir müssen lernen, mit einer derartigen Epidemie zu leben, ohne in Aufgeregtheit zu verfallen. Man kann sich nicht einsperren vor dem Virus, sondern man muss die Vorsichtsmaßregeln konsequent einhalten.

Hat die Ablehnung von Beherbergungsverboten auch mit der Frage zu tun, wie man das überhaupt vollständig kontrollieren soll?

Es hat mit meinem Selbstverständnis zu tun: Die Gesundheitsämter treffen in diesen Dingen die Entscheidung. Wenn man die stärken will, darf man die Entscheidungen nicht den Hoteliers und Restaurantbetreibern zuordnen. Die sollen in ihren Bereichen die nötigen Hygieneregeln durchsetzen; aber es ist nicht ihre Aufgabe, Menschen zu kontrollieren.

Ich werbe dafür, ganz genau hinzuschauen, wo Infektionen stattfinden - nicht in welcher Region, sondern konkret in welchem Gebäude, bei welcher Gelegenheit. Das Virus und die Krankheit sind gefährlich, aber unser Gesundheitssystem ist mittlerweile in der Lage, mit Covid-19 umzugehen. Und wir können denjenigen, die erkranken, viel früher beistehen als im Frühjahr.

Nun sind Herbstferien - für viele Menschen, die jetzt einen Urlaubsort suchen, wird der Thüringer Verzicht auf Beherbergungsverbote wie eine Einladung klingen.

Soll ich deswegen den Mund halten, wenn ich etwas falsch finde - aus Angst, dass Menschen zu Besuch kommen? Nicht alle, die aus Risikogebieten kommen, sind doch Infizierte. Ich kann nicht erkennen, ob jemand Symptome hat. Wer welche hat, der muss sofort ärztliche Hilfe suchen. Ich bitte darum, dass wir weniger Panik machen. Und dass wir aufhören, alles überall gleich regeln zu wollen. Was einheitlich sein muss: dass das Gesundheitsamt vor Ort entscheidet. Ich muss sicher sein, dass, wenn ich nach Berlin komme, die Hygieneregeln in den Restaurants funktionieren. Und ich muss wissen, ob sich beispielsweise im nd-Gebäude das Virus ausbreitet oder nicht. Die Berliner wiederum müssen sicher sein, dass auch wir in Thüringen die Regeln einhalten. Die Corona-Zahlen sind regional unterschiedlich, aber wenn etwas passiert, muss immer das gleiche Schema ablaufen: Nachverfolgung der Kontakte, Information und bei Bedarf Tests.

Wobei man hinzufügen muss: Ein Test sagt nur, dass man an den drei Tagen vorher nicht infiziert war. Drei Tage später kann das schon wieder anders aussehen. Insofern bieten Tests als Voraussetzung fürs Reisen nur eine Scheinsicherheit, und die gefällt mir nicht.

Gäbe es in Thüringen genügend Testkapazitäten für Einwohner, die in andere Bundesländer reisen wollen, oder hat Thüringen derzeit gar keine Hotspots?

Wir haben gerade einen Hotspot in Schleiz. Da geht es um eine Behinderteneinrichtung mit über 20 Infizierten. Dort werden Bewohner, Mitarbeiter, Lieferanten und andere, die Kontakt hatten, ermittelt und geprüft, damit wir nicht den ganzen Landkreis sperren müssen.

Es gibt bei uns ausreichend Kapazitäten, dass sich alle Thüringer vor einer Reise testen lassen können. Ich will nur darauf hinweisen, die Leute müssen das selbst bezahlen. Und das heißt: Wer weniger Geld hat, kann sich das vielleicht für seine Familie nicht leisten. Das ist anders als bei der Deutschen Fußballliga, die einfach gesagt hat, wir legen ein paar Millionen Euro auf den Tisch und testen alle Spieler, die auf den Rasen gehen. Die Fußballliga finanziert das aus den Fernsehrechten. Eine Rentnerin, die ihren Enkel besuchen will, kann sich das womöglich nicht erlauben.

Übrigens werden wir in Thüringen eine Messe durchführen, bei der wir uns ausschließlich mit solchen Themen wie besseres Lüften, saubere, virusfreie Raumluft usw. beschäftigen. Also mit technischen Begleitlösungen zur Corona-Bekämpfung. Da brauchen wir dringend mehr Forschung und Entwicklung. Denn in einer so mobilen Welt werden wir künftig noch stärker mit der Herausforderung durch Viren konfrontiert sein.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -