Tod, Folter, Aprikosen

Anne Weber hat mit »Annette, ein Heldinnenepos« den Deutschen Buchpreis gewonnen

Ein grandioses Thema, ein smartes Buch. Ein Leben für die Linken, voller Enttäuschung über die Linken und trotzdem keinerlei Religiöswerden oder Rechtswerden, sondern eher: weitermachen, aber reflektiert. Anne Beaumanoir ist heute 96 Jahre alt. Sie kämpfte gegen die Deutschen in der Résistance und sie kämpfte gegen die Franzosen in Algerien. Sie verließ ihre Kinder und floh aus Frankreich für die Revolution in Algerien. Dafür verließ sie auch die Kommunistische Partei. Nach dem Sieg der Revolution floh sie aus Algerien, weil die einen Revolutionäre die anderen verhafteten, in die Schweiz, wo sie als Ärztin in einem Krankenhaus arbeitet. Sie hätte auch nach Kuba gehen können, »aber danke nein, ›ein kleines Eckchen Illusion‹ (Zitat Annette) darf man sich wohl erhalten wollen«, schreibt Anne Weber. Sie hat Anne Beaumanoir ein literarisches Denkmal geschaffen: »Annette, ein Heldinnenepos«. Damit hat sie am Montag den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewonnen.

Nicht nur der Inhalt, auch die Form ist bemerkenswert: Es ist ein Epos in Versform. So etwas wird schon lange nicht mehr hergestellt. Und dann auch noch über eine Frau, so etwas gibt es schon gar nicht. Die klassischen Helden dieser Dichtform heißen Herakles und Odysseus. Und wenn man es etwas moderner möchte Leopold Bloom. Aber Annette? »Wieviele sterben jung, ohne dass sie hätten sterben wollen? Annette wird alt, uralt, mit diesem oder gar durch diesen Drang, für andere zu leben oder ihr Leben auch zu lassen«, schreibt Weber über diese, ihre Heldin, die in ihrem Buch vielleicht mythisch wirkt, aber völlig diesseitig agiert. Ganz zum Schluss ihres Buchs macht Weber den Vorschlag, in Camus‘ »Der Mythos des Sisyphos« den Namen von Sisyphos durch den von Annette zu ersetzen, wenn es heißt: »Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.«

Das »Heldinnenepos« von Weber muss man sich nicht als klassische Dichtung vorstellen. Es gibt keine Reime und die Hexameter sind auch nicht an der Macht. Es geht hier eher zu wie in den Gedichten von Charles Bukowski, die die klassische lyrische Form in Richtung Prosa verlassen haben. Man liest das gern, es ist warmherzig und ironisch zugleich. Und doch ist es Kunst und keine Biografie. »Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen«, sagte Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der den Buchpreis in Frankfurt am Main verleiht. Und zwar traditionell kurz vor Beginn der Buchmesse, die dieses Jahr eine Messe ohne Messe ist, da es keine Aussteller gibt, aber sehr viele Veranstaltungen, die online übertragen werden.

Die in Paris lebende Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber hat die Bretonin Anne Beaumanoir auf einer Veranstaltung in einem Kino kennengelernt, als Malte Ludins Dokumentarfilm über seinen Nazivater »2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß« (2005) gezeigt wird. Nach der Vorführung meldet sich Beaumanoir, die im Krieg zwei jüdische Kinder versteckt hatte, zu Wort. Später begegnen sie sich beim Buffet. Weber habe, schreibt sie in »Annette«, Beaumanoir angeschaut und gedacht: »Dich gibts? Dich gibts wirklich?« Sie haben sich dann oft getroffen und unterhalten. Ihr Buch sollte keine Biografie werden, sagte sie in ihrer Dankesrede in Frankfurt, doch habe sie versucht, so wenig wie möglich dazu zu erfinden. Zwar habe Beaumanoir dem Buch zugestimmt, aber gesagt: »Das bin ja gar nicht ich!«

Weber glaubt, Beaumanoirs Geschichte »einen Rhythmus gegeben zu haben«. Das ist ihr in der Tat gelungen. Es ist spannend und berührend zu lesen. Es geht um sozialistische, humanistische Ideen, um die Befreiung des Menschen als großer, unzerstörbarer Hoffnung gegen Faschismus, Stalinismus und Kapitalismus. Fortwährend geht es aber auch um Folter und Vernichtung. Die Deutschen foltern Antifaschisten, die vom Faschismus befreiten Franzosen foltern antikoloniale Algerier und als die ihr Land von Frankreich befreit haben, foltern sie politische Gegner.

Für die Heldin liegen Glück und lebensbedrohliche Gefahr sehr nah beieinander: »Annette pflückt Aprikosen. Alles kann gut gehen/ oder nicht. Tod. Folter. Aprikosen. Dazwischen:/ nichts. Ein Hauch weniger Wachsamkeit und Glück«. Annette pflückt Aprikosen in der Provence, wo hin sie die Résistance geschickt hat, »während vier andere in Montluc eingekerkert sind, während die/ Alliierten in die Normandie einfallen und in / Oradour-sur-Glane-Einheiten der SS-Panzerdivision/ ›Das Reich‹ 642 Einwohner ermorden«. Die Bedrohung ist immer da, sie wartet um die Ecke. Das wird in diesem Epos abermals verdeutlicht. Schon kurz nach der Befreiung verfolgen sich Franzosen gegenseitig: Wer war Verräter? Und wen stellt man als Verräter hin, um an seinen Besitz zu kommen?

Allerdings werden diese großen Themen ohne große politische oder historische Erklärungen auf das heldenhafte Individuum Annette heruntergebrochen, das von den Kollektiven entweder enttäuscht oder gar bedroht wird und somit einsam durch die barbarischen Zeiten schreitet. Und wenn es die überlebt, dann könnte es vielleicht sogar sein, dass es doch einen Gott gibt, auch wenn sie niemals an einen solchen glauben will, oder? »Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht«, schreibt Weber ganz am Anfang. Diese theologische Suggestion erlaubt sich Weber fast schon scherzhaft, denn erstens ist dies ein Epos, und zweitens wirkten die Kommunisten sehr oft so, als hätten sie einen religiösen Knall.

Annette ist eine linke Heldin, keine Frage. Die Frage ist nur: Wo ist die Linke geblieben? Das ist dann doch eine eher harmlose Pointe.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz, 208 S., geb. 22 €

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