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Wer gibt, wer nimmt?

Ist dies ein Agitpropfilm, der uns mit Schockbildern zu Vegetariern bekehren will? Der Dokumentarfilm »Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Es surrt, eine Säge vielleicht, dazwischen Menschenstimmen. Die fernen Geräusche einer Fabrik. Einer Fleischfabrik, um genau zu sein. Wir sehen drei Schweine in einer Box, die mit wissenden Augen in die Kamera blicken und mit einem kleinen gelben Ball spielen, als hätten sie alle Zeit der Welt. Dann die wehmütigen Klänge eines Cembalos und jemand der sagt: »Erinnert du dich?« Wir hören von der Maschine, die den Kopf vom Rumpf der Tiere trennt und von einem Unfall, bei dem ein Arbeiter in diese Maschine geriet. Ein osteuropäischer Leiharbeiter, nicht mehr als eine kurze Meldung wert.

Die Informationsflut der Mediengesellschaft hat uns abgestumpft. Auch hier bleiben die Geschichten der Leiharbeiter im Dunkeln. Wir sind so leicht durch nichts mehr zu erschüttern, haben Bilder aller Art von Grauen schon irgendwo mal gesehen. Georg Trakl schrieb vor über 100 Jahren in seinem Gedicht »Vorstadt im Föhn«: »Und ein Kanal speit plötzlich feistes Blut / Vom Schlachthaus in den stillen Fluß hinunter. / Die Föhne färben karge Stauden bunter, / Und langsam kriecht die Röte durch den Fluß. / Ein Flüstern, das im trüben Schlaf ertrinkt.« Und als bei einem Dorffest ein Kalbskopf als zu gewinnender Hauptpreis vorbeigetragen wurde, ging er in die Knie und rief: »Das ist unser Herr Jesus Christus!« Er meinte es ernst, die Tiere waren ihm näher als die ihn Umstehenden, die ihn für verrückt hielten und auslachten. Ehrfurcht vor dem Leben, Bruder Schwein?

Klar ist, diese riesigen Fabriken, bei denen vorn ständig die Transporter mit lebenden Tieren hereinfahren und hinten jene mit verkaufsfertigen Koteletts und Würsten herauskommen, erinnern an Kafkas »Schloss«: Man weiß nicht genau, was darin passiert - nur dass es etwas in seinem fabrikmäßigen Takt Ungeheuerliches ist, ein immer gleicher Transit vom Leben zum Tode, das weiß man genau. Und nach dem Tod kommen die Konsumenten.

Ist dies ein Agitpropfilm, der uns mittels Schockbildern zu Vegetariern bekehren will? Nein, der moralische Erpressergestus liegt der 1986 in Moskau geborenen Regisseurin Yulia Lokshina fern, die 2019 mit »Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit« ihren Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film in München vorlegte. Wir blicken nicht hinter die Mauern der Fleischfabrik - hier ist es Tönnies, die durch massenhafte Corona-Fälle in die Schlagzeilen geriet. Wir sehen keine Fließbänder, deren immer zu hohes Tempo den Takt für die Arbeiter vorgibt. Kein zerlegtes Tier kommt in diesem Film vor.

Yulia Lokshina fragt grundsätzlich, interessiert sich für die anonymen Beschäftigten, die für Leiharbeitsfirmen zu Dumpinglöhnen hier arbeiten. Es geht um das System der Ausbeutung von Arbeitskraft in dieser Gesellschaft. Ein Fleischwolf, ein harmloses Küchengerät, wird zur Metapher für das, was an den Rändern der Gesellschaft passiert. Nur an den Rändern?

Der Kunstgriff des Films: Er versucht sich gleichsam selbst zu kommentieren. Einerseits sehen wir die osteuropäischen Leiharbeiter, die oft auch ihre Namen nicht sagen wollen, die von den überlangen Tagen am Band berichten. Pro Schicht gehen bis zu 20 Tonnen Fleisch durch ihre Hände. Und hinter ihnen stehen die Vorarbeiter, deren häufigstes Wort »Schneller!« ist. Das klingt nach einer abgeschotteten Welt, gemacht aus moderner Sklavenarbeit. Wer blickt schon gern auf die im Schiffsbauch Schuftenden, wenn er im Oberdeck als Passagier erster Klasse reist? Das Wort von den »Parallelgesellschaften« ist hier eines der häufig gebrauchten.

Doch die Problematik, die dabei behandelt wird, scheint noch grundsätzlicher - die »Ränder« sind längst in der Mitte angekommen. Keine akademische Laufbahn mehr ohne eine lange demütigende Abfolge von befristeten Verträgen, und selbst diese gelten noch als das große Los innerhalb des akademischen Prekariats. Die »Verjobbung« der Arbeitswelt, die dem Prinzip folgt, es gehe doch noch billiger, ist ein Virus, der längst alle Bereiche der Gesellschaft befallen hat. Mit schwerwiegenden Folgen für die Moral im Lande. Wie es bei Brecht heißt: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.«

Yulia Lokshina ist an ein Gymnasium in München gegangen, wo gerade Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« von 1931 geprobt wurde. Der Kampf gegen die allmächtigen Fleischkönige stellt die Frage nach der Legitimität von Gewalt im sozialen Kampf. Das Thema scheint den Jugendlichen weltenfern, Klassenkampf und Revolution sind für sie Relikte der Vergangenheit. Man lebe schließlich in einer »sozialen Marktwirtschaft«, da werde für alle gesorgt. Ausbeutung ist ihnen ein zu gefährlich klingendes, hässliches Wort von gestern. Der Regisseur des Theaterprojekts versucht den Bogenschlag zu Tönnies, hin zur Profitmaximierung durch Leiharbeit, er will die Reaktionen der Schüler provozieren. Aber da kommt nichts.

Die Themen Gebrauchswert und Tauschwert, die Ware-Wert-Beziehung, die Trennung der Produzenten von ihren selbst geschaffenen Produkten - über dieses Kapitalgesetz haben Abiturienten in diesem Land meist noch nie etwas gehört, und auch im Studium wird man sie damit kaum behelligen. Wie absurd das werden kann, zeigte vor einigen Jahren das große Staunen von Jugendlichen bei einem Publikumsgespräch zu Clemens Meyers »89/90« am Schauspiel Leipzig. Sie gestanden, ihnen sei erst durch diese Inszenierung klar geworden, dass »Arbeitnehmer« nichts nehmen, sondern im Gegenteil ihre eigene Arbeitskraft geben.

Ist also Didaktik angesagt? Man ist hin- und hergerissen vom aufklärerischen Impetus der jungen Regisseurin, die etwas vom Funktionsprinzip dieser Gesellschaft bloßlegen will einerseits und dem unübersehbar geringen künstlerischen Ehrgeiz andererseits. Denn im Kontrast zu dem hohen Tempo der Fließbänder gehen hier die Szenen im Zeitlupentempo voran. Zehn Minuten Leiharbeiterinterview, zehn Minuten Schultheaterproben, zehn Minuten Protestkundgebung oder Gespräche mit jenen Helfern, die den Leiharbeitern zur Seite stehen, sie auffordern, das Kleingedruckte ihrer Verträge zu lesen - das scheint ein allzu gemächliches Tempo. Mehr Godard’scher Schnitt-Furor, mehr überraschende Bildeinfälle wären für den Film als Kunstform gut gewesen.

So aber kommt »Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit« wie eine filmische Lektion in notwendiger Sozialkunde daher. Man kann nicht alles haben?

»Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit«, Deutschland 2020. Regie: Yulia Lokshina. 96 Min. Kinostart: 22.10.

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