Poetische Weltflucht

Lichtscheu: Peter Handkes »Zdeněk Adamec« am Deutschen Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Dichtung ist die Einrednerin - zu uns hergeschickt von den Märchen. Sie soll versuchen, in den Seelen eine uralte Lüge durchzubringen: Die Dinge könnten, trotz allem, gut ausgehen. Sie gehen nicht gut aus. Wir nennen’s Geschichte, Natur. Aber, sagt die Poesie: Wir halten durch, wir halten aus. Wir halten einander fest? Wenigstens innehalten, damit wäre schon viel gewonnen. Innehalten, das ist das große, schöne, einsame, gute, bittende, betende Hauptwort aller Nebenworte.

Innehalten ist immer auch Warten. Worauf? Die drei Frauen, die drei Männer in dieser Kapelle - gemalte Marienbilder ringsum - scheinen Wartende zu sein. Zeit macht ihnen die Aufwartung. Stille. Erinnerung, sprich! Und so reden sie. Über Zdeněk Adamec, den 18-Jährigen aus dem böhmischen Humpolec, der sich 2003 auf dem Prager Wenzelsplatz verbrannte. Wie Jan Palach 1968 beim Einmarsch sowjetischer Truppen. Eine wahre Begebenheit. Sofort kommt Einspruch: »Mit wahren Begebenheiten könnt ihr mich jagen.« Adamec war zu gern am Leben, um es auszuhalten. Er brannte sich aus der Welt, nun kommen sechs erzählend durch die ganze Welt: Sie mutmaßen, klagen, kommentieren, rollen auf, fallen sich ins Wort, fallen aus der Zeit, in sie hinein. Einander Unbekannte kommen sich nah? Einander Nahe entfernen sich voneinander?

»Zdeněk Adamec« von Peter Handke wird in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin von Jossi Wieler zur deutsche Erstaufführung gebracht (Bühne und Kostüme: Jens Kilian). Handkes Programm seit jeher: Theater mit jedem Stück neu zu erfinden, jenseits des Dramas, abseits aller Konfliktkracher. Der Hygieneabstand nun als willkommenster Choreograph einer tollkühnen Handlungslosigkeit - die vorsichtige Umkreisung als sanfte Beinarbeit gegen die übliche Peinarbeit auf Bühnen. Hier findet wahrlich Schleichwerbung statt. Positionen bleiben auf der Suche, der Raum wird durchwandert, ohne der Leere Gewalt anzutun. Jedes Gegenüber bleibt durchlässig, damit eine Traurigkeit anlanden kann. Laufendes Erzählen gegen feste Standpunkte. Das Leben zückt hier mal einen Lippenstift, verkriecht sich dort wärmesuchend in einem Mantel, sitzt bang auf einer der Bänke, klammert sich an eine Aktentasche, fläzt sich auf einen Tisch, drückt sich an die Wand, findet Halt an einem Cellokasten, lacht irr auf, gerät ein einziges Mal in eine heftige, Trost erbittende Umarmung.

Theater als Tanz der unmerklichen Schritte gegen alles, was auf Linie bringen will. Wie eine Ermutigung: Bleib im Gehen stets ein Übergang, sei im Deuten ein Undeutlicher. Und so formt sich das Erzählen über den unglücklichen Zdeněk Adamec zu einer Wahrsagung vom Menschen fernab des politischen Getöse- und Einmischfiebers. Ein inständiges, auch verzweiflungszorniges Einreden findet statt, gegen tote Seelen. Freiheit des Blitzeschleuderns inmitten schierer Wetterlosigkeit. Der Inszenierungstraum: Mögen die Menschen endlich nicht mehr so meinungsbefeuert sein, so eingriffsinfiziert, so zungenfertig ohn’ Unterlass! »Hinter tausend Aktualitäten keine Welt.« Daher Aufruf zur Poesie! Gegen die sehnigen Lebensdurchmarschierer, die Zeit- und Raumdurchblicker, die Gesetzeskenner und Antwortabonnenten, die unter ihrem Weltverstehen nur immer eines meinen: Leben auf der klügeren Seite eines Widerspruchs, dort, wo man sich nicht aus der Ruhe einer einzigen Wahrheit bringen lässt. Handke preist das schöne Ereignis, als Mensch irgendwie unverwendbar zu werden fürs Nützliche. Die Unverwendbaren, ach, wären sie doch auch die Unverwundbaren.

Zdeněk, der gute Tor mit den Hüpfschritten am Horizont: »Blaubeerensammler aller Länder ...!« Der beglückte Schlittenfahrer im Schneeblau der Nacht. Der mit der Mutter aus dem Haus tanzte. Der Steinmetzgehilfe, der die Arbeitsgeräte zum Verdruss des Vaters nie ordentlich zurücklegte, weil er immer und überall die ganz neue, so ganz andere Ordnung träumte. Der einen Computerclub mitgründete, Rebellion gegen den allgewaltigen Lichtschmutz, für eine »Welt ohne all euer falsches Licht, nachtschwarze Welt, einzig uns verbliebenes Vaterland«. Zdeněk, der Erstarrende, als er seinen Lieblingsort im Wald einem nahen Menschen zeigt. Der aber so enttäuschend ohne Regung bleibt, dass Zdeněk zutiefst in Schreck und Scham gerät. Jetzt schreien Stück und Inszenierung geradezu auf: »Zeig niemandem deine Heimat!« Bleib allein in dem, was dir am tiefsten sitzt. Am Schönen erblüht man, am Schönen verzweifelt man.

Eine Vogelfeder fällt herab. Eine Perücke löst sich von einem Frauenkopf. Ein Fotoapparat blitzt uns Zuschauer an. Eine Jukebox stottert Musik. Da, noch fester hüllt sich eine der Frauen in ihren Mantel - als wünsche sie, sich so fest auch ins Schweigen hüllen zu können, und Leben sei endlich befreit von aller Beschreibung. In den wehen, schreckfähigen, scheuen, offenen, müden Gesichtern spiegelt sich, was das Dasein nicht zu bieten hat. Eine Tür hat die Kapelle nicht: Behausungen reißen wir gern ein, um unter Trümmern ins Freie zu finden. Jetzt öffnen sich die Wände, der Boden auch, ein breiter Spalt: Blicke des Ensembles ins dunkle Offene, aber spürbar der Vorsatz, nicht mehr alles sehen zu wollen, wenn irgendwann kommen wird, was wir schon immer gewusst haben.

Felix Goeser ist der legere Robuste, Regine Zimmermann die beflissen Spinöse. Marcel Kohler bietet ein souveränes Vernunftsgemüt, Linn Reusse ist auf dem Sprung zur Betschwester. Lorena Handschin hat was von einer Pastorin mit listiger, geschmeidiger, betörenden Neigung zur Personalityshow. Und Bernd Moss ist der nervös und flippig auf seine Sekunde wartende Eckenklemmer. Scharfe Erkenntnis und ein zartes Gleiten der verletzten Empfindungen bilden ein tief berührendes Gefüge.

Niemand ist virtuos, aber alle sind von einer zauberhaften Gestimmtheit für Handkes Text und Ton. Sprache ist hier kein Finden von Worten, sondern von Wörtern überrascht werden, den Seitensträngen eines Gedankens nachgeben, freudig oder hilflos verästelt bleiben. Sich wundern, woher plötzlich die Fragezeichen kommen und dann einen Punkt machen - um daraufhin von einem Doppelpunkt alles wieder für offen erklären zu lassen.

Der an der Welt verzweifelte, weil er sich nach ihr sehnte: Zdeněk Adamec. Ein erstickter Flehender, ein abgewiesener Liebender. Anderthalb Theaterstunden und so viel Beschreibungsglück beim Blick auf die Dinge. »Humpolec, Böhmen, Welt, Universum.« So ein liebenswerter, so witziger wie weinenswerter Märchentrotz. Es gibt für niemanden Ruhe vor dauernd drängenden Fragen, aber just in den Fragen kommt doch ein jeder zu einem Frieden: Was erzählt wird, stirbt nicht.

Nächste Vorstellungen: täglich 27. bis 30. Oktober

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