Die Ausgegrenzten

Die Schriftstellerin Jana Hensel über marginalisierte Gruppen und Unfrieden in Deutschland

Frau Hensel, Sie vergleichen in Ihrem neuen Buch mit Naika Foroutan Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund. Kann man dies?
Es gibt zwischen Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund große Unterschiede, aber auch verblüffende Ähnlichkeiten.

Und die wären?
Zunächst: Menschen mit sichtbarer Migrationsgeschichte erleben im Alltag fast täglich Rassismus. Rassismus gehört nicht zu den Erfahrungen der Ostdeutschen. Aber sie erleben ebenfalls Diskriminierung, Abwertung und Ausgrenzung. Beide Gruppen eint, dass für sie sozialer Aufstieg schwieriger ist als für Menschen der Mehrheitsgesellschaft und dass der Erlangung hoher Bildungsabschlüsse nicht automatisch eine Karriere folgt. Beide Gruppen sind massiv unterrepräsentiert in der Elite, ihre Gehälter und Renten sind niedriger und sie besitzen weniger Vermögen.

Sie verbindet zudem eine Fremdbeschreibung, konstante Betrachtung aus einer weißen westdeutsch dominanten Perspektive. Ihnen werden häufig Defizite von der Mehrheitsgesellschaft attestiert: Wenn die Ostdeutschen nicht so faul wären, mehr Eigeninitiative beweisen würden, nicht so integrationsunwillig und demokratieunfähig wären, wenn die bei uns lebenden Muslime unsere christlichen Werte teilen würden - dann würden ihnen auch alle Aufstiegschancen offen stehen. Wenn Ostdeutsche soziale Kritik äußern, wird ihnen unterstellt, ständig zu jammern. Menschen mit Migrationshintergrund wiederum wirft man vor, sie würden sich selbst zu Opfern stilisieren. Für beide Gruppen ist es schwer, auf Augenhöhe den Diskurs mit der Mehrheitsgesellschaft zu führen.
Jana Hensel
Die 1976 im sächsischen Borna geborene Journalistin und Schriftstellerin Jana Hensel studierte Romanistik und Literatur an der Universität Leipzig. Mit ihrem 2002 veröffentlichten Erinnerungsband »Zonenkinder«, der über ein Jahr lang auf der »Spiegel«-Bestseller-Liste stand, gelang ihr der publizistische Durchbruch. Es folgten nicht minder beachtet »Neue deutsche Mädchen« und »Achtung Zone – Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten«. Dieser Tage erschien von ihr der mit  Naika Foroutan verfasste Gesprächsband »Die Gesellschaft der Anderen« (Aufbau, 356 S., geb., 22 €). Mit Jana Hensel sprach Karlen Vesper.

Obwohl beide Gruppen bereits in zweiter oder gar dritter Generation Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind.
Beide Gruppen sind keine marginalen Gruppen, dennoch sind sie marginalisiert. Menschen mit Migrationsgeschichte machen mittlerweile 25 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, fast genauso viel, 26 Prozent, sind Ostdeutsche, wenn man sie analog des Migrationshintergrundes zählt.

Womit sie die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik ausmachen. Wer ist da die Mehrheitsgesellschaft?
Naika Foroutan und ich sind der Ansicht, dass der Begriff Mehrheitsgesellschaft unscharf ist. Es wäre wohl besser, im Sinne des US-amerikanischen Soziologen Richard Alba von der Mainstream-Gesellschaft zu sprechen. Dieser Tage twitterte jemand: Eine sechsmonatige Auslandserfahrung gilt in einem Bewerbungsgespräch mehr als eine Migrationsbiografie. Analog lässt sich aus der Perspektive der Ostdeutschen sagen, dass ein sechsmonatiger Auslandaufenthalt mehr gilt als die Erfahrung, zwei Systeme erlebt zu haben. Viele Abwertungs-, Verdrängungs- und Stigmatisierungsprozesse fußen auf dem selben Mechanismus, der von Klischees, Stereotypen, Vorurteilen genährt wird.

Und wie entstehen diese?
Naika Foroutan formuliert es so: Durch die kollektive Ausweisung der Anderen aus der Norm erhöht man den Status der eigenen Gruppe. Damit legitimiert man die eigene Position. Und man versucht zugleich zu legitimieren, warum die Anderen »unten« sind.

Sie schreiben, dass Ostdeutschland der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft auch als »Sondermülldeponie« dient, zur Entlastung eigener Sünden. In ganz Deutschland erstarkender Rassismus und Rechtsradikalismus wird gern nur den Ostdeutschen untergeschoben.
Wir haben in der ostdeutschen Gesellschaft unbestreitbar ein starkes Aufflammen von Alltagsrassismus und eine besonders starke Anhängerschaft der AfD.

Deren führendes Personal aus dem Westen stammt.
Die AfD ist ein Ost-West-Amalgan. Die sich verfestigenden rechten Strukturen in Ostdeutschland sind ganz klar auch hausgemacht. Wir wissen, wie lange und hartnäckig man rechtsextreme Tendenzen in sächsischen Dienststellen geleugnet hat oder sich weigerte, diesen konsequent zu begegnen. Wir wissen ebenso, dass die führenden Stellen in ostdeutschen Institutionen zu großen Teilen von Westdeutschen besetzt sind. Man kann dennoch nicht trennen zwischen ost- und westdeutschem Versagen.

Ich meine aber auch, dass man den Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in Ostdeutschland nicht auf weniger Demokratieerfahrungen der Ostdeutschen schieben kann. Ebenso nicht ausschließlich als Erbe der DDR erklären kann, wie aus westdeutscher Perspektive häufig geschieht. Das wäre sehr verkürzt und ist ebenso falsch, wie wenn man allen Muslimen einen Hang zum Islamismus vorwerfen wollte. Es gibt Kontinuitätslinien, aber ich halte die Erfahrungen der Ostdeutschen in den frühen 90er Jahren, das Zusammenbrechen ihrer Gesellschaft, die Massenarbeitslosigkeit, den rasanten Um- und Abbau für wesentlich entscheidender.

Sie plädieren also dafür, die Zeit nach der Vereinigung unter die Lupe zu nehmen?
Ja, wir versuchen die letzten 30 Jahre deutscher Geschichte aus zwei völlig neuen Perspektiven zu betrachten und zu analysieren. Wir erzählen deutsche Geschichte aus ostdeutscher und migrantischer Perspektive. Für Menschen mit Migrationsgeschichte waren die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und die Debatte um die fatalen Thesen von Thilo Sarrazin ganz wichtig, die sich unmittelbar anschloss an den Satz des Bundespräsidenten Christian Wulff »Auch der Islam gehört zu Deutschland«. Wichtige Zäsuren für die Ostdeutschen hingegen waren die Jahre 1989/90 und die Einführung von Hartz IV. Für beide Gruppen bedeutsam war das Jahr 2015. Von Willkommenskultur war bald nicht mehr viel zu spüren. In Ostdeutschland gab es Brandanschläge auf Asylbewerber- und Flüchtlingsheime. Menschen mit Migrationshintergrund, die Jahrzehnte hier leben, fühlten sich plötzlich wieder fremd betrachtet.

Und dies, obwohl sie oft viel besser Deutsch sprechen als manche sogenannte Bio-Deutsche.
Auch eine typische Negativerfahrung von Minderheiten: Ihren Anpassungsanstrengungen wird nicht gedankt. Der unbedingte Wille der Ostdeutschen, sich zu assimilieren, war nicht von Erfolg gekrönt. Noch nicht einmal ihre Kinder schaffen es, in soziale Positionen zu kommen wie in der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft geborene Kinder. Das Gleiche trifft auf Migrantenkinder zu. Ostdeutsche haben es zwar leichter als Menschen mit Migrationshintergrund, sich in der Mehrheitsgesellschaft unsichtbar zu machen. Und doch werden auch sie wie Außenstehende behandelt.

Der Impuls für die Ostdeutschen, die 1990 der Bundesrepublik beigetreten sind, war das Versprechen des Grundgesetzes, Artikel 3: Gleichheit vor dem Gesetz. In diesem Land wird niemand aufgrund seiner Herkunft oder Sexualität schlechter behandelt. Dem stehen jedoch die realen Erfahrungen der Ostdeutschen wie auch der Menschen mit Migrationshintergrund entgegen. In diesem Land gibt es eine äußerst manifeste strukturelle Ungleichheit, und diese Ungleichheit lässt sich ganz präzise entlang der beiden Gruppen, Ostdeutsche und Migranten, erzählen. Das Versprechen der Demokratie ist für sie schal geworden, der Glaube an die Demokratie brüchig. Deshalb unser Buch.

Zerschlagene Hoffnungen scheinen verbindend zu sein.
Ja. Man sollte aber anerkennen, dass vieles erreicht ist, auch wenn man oft hört: »Es wurde vieles besser, aber es ist nicht wirklich gut.«

Warum verbünden sich trotz ähnlicher Ausgrenzungserfahrungen Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund nicht zu einer »Einheitsfront«?
Weil es Vorbehalte gegen die jeweils andere Gruppe in beiden Lagern gibt. Menschen mit Migrationshintergrund ängstigt natürlich der große Anteil an rechtspopulistischen Wählern im Osten.

Die Ereignisse in Thüringen und Hanau Anfang dieses Jahres sind Dreh- und Angelpunkte Ihrer Gespräche mit Naika Faroutan. Warum gerade diese?
Wir haben uns unter deren unmittelbarem Eindruck zusammengesetzt und beschlossen, sie aus der Perspektive der marginalisierten Gruppen betrachten, für die wir beide stehen und um die auch die aktuellen Debatten in diesem Land kreisen. Der Rechtsschwenk in Ostdeutschland ist nicht zu erklären, ohne zu analysieren, warum sich der Diskurs in ganz Deutschland nach rechts verschoben hat. Menschen mit Migrationshintergrund sehen sich verstärkt Überfällen und Attentaten ausgesetzt, zugleich wehren sie sich viel stärker gegen rechte Abgrenzung und Anschläge als früher.

Thüringen und Hanau stehen aber für zwei verschiedene Ebenen - einmal die politische, zum anderen die individuelle, Gewalttat eines sogenannten Einzeltäters.
Beides hängt zusammen. Wenn sich ein Vertreter einer demokratischen Partei mit Unterstützung der AfD-Fraktion zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes wählen lässt, wenn ein Markus Söder von »Asyltourismus« sprach, dann werden gewaltbereite Rassisten ermuntert. Wenn Alexander Gauland die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, nach Anatolien »entsorgen« möchte, und Alice Weidel von »Kopftuchmädchen und alimentierten Messermännern und sonstigen Taugenichtsen« redet, fühlen sich Gewalttäter legitimiert. Es sind Narrative aus dem bürgerlichen Milieu, die für die mörderischen Anschläge auf Migranten, Geflüchtete, Jüdinnen und Juden mitverantwortlich sind.

Was wäre Ihr Rezept, um Vorurteile, Hass und Feinbilder zu überwinden?
Wir wollen erst einmal Probleme aufdecken, sichtbar machen und hinterfragen, was konventionell für die Wahrheit gehalten wird. Beispiel Coronakrise: Wie oft wurde gesagt, diese Pandemie sei die größte Herausforderung seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Das gilt natürlich nicht für die Ostdeutschen, für sie waren die 90er Jahre viel turbulenter und anstrengender mit der Massenarbeitslosigkeit und der Notwendigkeit, sich in völlig veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen neu zu orientieren. Mit solchen Erzählungen wie der Einzigartigkeit der Situation unter Corona schließt man bestimmte Gruppen aus.

Dieses Land ist wahnsinnig interessant, hat in den letzten Jahrzehnten eine spannende, vielgestaltige Entwicklung durchlebt, ist zu einem Einwanderungsland geworden und hat eine wiedervereinigte Identität hinzugewonnen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie starr, altbacken und falsch zugleich dennoch die Erzählung dieses Landes über sich selbst ist. Wie starr auch noch die Strukturen sind. Wer ist oben und wer unten? »Unten« tummeln sich alle Bevölkerungsgruppen: Menschen mit Migrationshintergrund, Ostdeutsche und Westdeutsche, Frauen und Männer. Wenn wir nach »oben« schauen, finden wir fast ausschließlich alte weiße westdeutsche Männer.

Deshalb fordern Sie was?
Natürlich ökonomische Umverteilung und neue Anerkennungsstrategien. Wir brauchen eine Korrektur der Realität, wie sie vor 30 Jahren in den fünf neuen Bundesländern installiert worden ist. Die Politik muss konsequenter gegen Rassismus und Rechtsradikalismus vorgehen. Und wir müssen Menschen mit Migrationsgeschichte und Ostdeutsche in die Mehrheitsgesellschaft integrieren.

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