»Die Scham ist ein politisches Gefühl«
Es geht um Sichtbarkeit: Man muss nicht auf der Straße gelebt haben, um über Obdachlosigkeit zu schreiben - ein Gespräch mit Markus Ostermair über sein Romandebüt »Der Sandler«
»Der Sandler« ist ihr Debütroma und spielt in München. Für Nichtbayern: Was ist ein Sandler und wie wichtig ist München als Handlungsort mit seiner Schickeria und den sozial Abgehängten in den Wärmestuben und Notschlafstellen?
Mit dem Wort »Sandler« bezeichnet man im Bayerischen und Österreichischen Obdachlose, wobei es neben der neutralen auch noch eine stark abwertende Konnotation haben kann. Der Roman spielt in München, weil ich mich dort am besten auskenne, aber seine Schickeria ist kaum von Belang. Dieser Roman könnte eigentlich in jeder Großstadt spielen. Andererseits hörte ich immer wieder, dass es in der reichen Stadt München ja kaum Obdachlose gebe, was natürlich Quatsch ist. Man muss nur genau hinschauen. Das habe ich versucht, zu tun.
Seit der Schriftsteller und Lehrer Markus Ostermair in der Bahnhofsmission München als Zivildienstleistender gearbeitet hat, setzt er sich mit dem Thema Obdachlosigkeit auseinander. Davon handelt auch sein erster Roman »Der Sandler«, für den er den Tukan-Preis der Stadt München erhalten hat. Mit Ostermair sprach Leonhard Seidl.
Sol Stein hat in seinem Handbuch für Kreatives Schreiben postuliert, dass man alkoholkranke und psychotische Protagonist*innen tunlichst vermeiden sollte, weil die Lesenden deren Lebensrealität nicht nachvollziehen könnten. Sie haben es trotzdem getan. Warum?
Es wäre fatal, wenn die Literatur nur die Lebensrealität der Schreibenden und Lesenden thematisieren würde - das passiert meiner Meinung nach eh schon zu oft. Ich kann mir vorstellen, warum Stein das schrieb, denn es steht zu befürchten, dass solche Figuren im Kampf um Aufmerksamkeit oft einfach benutzt werden, um irgendeine Story dramatischer zu machen. Alkoholismus und Psychosen haben natürlich immer eine individual-psychologische Dimension, aber eben auch eine politische, und die gilt es, zu beschreiben und herauszuarbeiten. Es geht ja in meinem Roman nicht darum, Sauforgien zu schildern, sondern das Ringen um Würde im Alltag von Straßenobdachlosen, das Scheitern und den Platz, den eine im Dauerkonkurrenzkampf sich befindende Gesellschaft dem Scheiternden zuweist. Das zentrale Thema ist dabei die Scham - ein durch und durch politisches Gefühl - und die Mechanismen der Beschämung. Weil Scham Schweigen macht, muss die Literatur das Schweigen zur Sprache bringen.
Wie ist es mit der Authentizität? Manche würden ihren Roman als literarische Aneignung einer Lebenswelt kritisieren, die Sie nicht beschreiben können, weil Sie sie nicht leben oder gelebt haben. Als poor-porn, sozusagen. Oder haben Sie sogar auf der Straße gelebt?
Nein, das habe ich nicht, und das kann man auch nicht simulieren, indem man wie ich ein paar Monate lang mit dem Skateboard durch Europa trampt, auf Konzerte geht und ein paarmal unter freiem Himmel pennt. Der Vorwurf, einen Elendsporno geschrieben zu haben, wurde bisher zum Glück noch nicht erhoben, aber ich war mir der Problematik des »Hierarchiegefälles« beim Schreiben sehr wohl bewusst. Ich habe versucht, dem durch meine vielstimmige und panoramaartige Erzählhaltung zu begegnen, die sich auf die Seite der Figuren schlägt. Ich wollte nicht die krassesten Vorfälle ausstellen, sondern hauptsächlich den Alltag von Obdachlosen, wie ich ihn jahrelang beim Zivildienst und in der ehrenamtlichen Arbeit beobachtet habe, in der Literatur sichtbar machen, weil er bis dato dort nie Thema war. Ich wollte die Heterogenität der Menschen zeigen, die Gemeinschaften, die Solidarität, aber auch die Isolation, die Gewalt und den Ekel und den Selbstekel. Obdachlose in ihrem Menschsein ernst zu nehmen und nicht einfach nur Effekte aneinanderzureihen, schützt, so hoffe ich, vor solchen pauschalen Vorwürfen.
Ein Teil Ihres Figurenpanoramas besteht aus wohnungslosen Frauen und osteuropäischen Bettler*innen. Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede bestehen zwischen diesen Gruppen?
Das ist sehr vielschichtig und würde vermutlich den Rahmen sprengen. Letztere sind wohl im Straßenbild und in den Köpfen der Passant*innen die auffälligste Gruppe, wahrscheinlich wegen des Misstrauensvorschusses, den sie »genießen«. Die Vorurteile und Mythen - Stichwort »Bettelmafia« oder »-banden« - sind Legion, während die Existenz von Tagelöhnerstrichen und Massenunterkünften in der Schlacht- und Agrarindustrie sowie das Mindestlohngefälle zwischen EU-Staaten achselzuckend zur Kenntnis genommen wird, wenn überhaupt. Insgesamt existieren die jeweiligen Gruppen aber ziemlich isoliert voneinander, würde ich behaupten. Obdachlose Frauen ziehen sich aus Schutz vor Übergriffen häufig stark zurück und versuchen lange, jegliche Art von Sichtbarkeit zu vermeiden. Überhaupt tun sie oft viel mehr, um nicht als obdachlos wahrgenommen zu werden - das kann auch dazu führen, dass sie in unzumutbaren Verhältnissen, z.B. in Ausbeutungsbeziehungen, bleiben und somit verdeckt obdachlos sind.
Ihr Protagonist, Karl Maurer, ist äußerst reflektiert und intelligent - er hat Mathematik studiert und war im Begriff, Lehrer zu werden. Wollten Sie so Klassismus in der Literatur entgegenwirken?
Einer der ersten Klienten, dem ich als Zivi begegnet bin, hatte einen Doktortitel im Pass eingetragen. Ein anderer erzählte, dass er seine Frau, seine drei Kinder und all seine Habe bei einem Wohnungsbrand verloren habe. Viele Wege führen nach unten, natürlich mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten. Da spielt der Zufall der Geburt - wo?, in welche Familie? - ebenso eine Rolle wie Unfälle oder Krankheiten, sei es der Schlaganfall ohne Berufsunfähigkeitsversicherung oder aktuell Corona, was bei vielen den Verlust der Wohnung als eine gar nicht so unrealistische Möglichkeit ins Bewusstsein treten lässt. Es geht dann auch nicht immer rein um Geld, sondern auch um soziale Bindungen, erlernte Verhaltensweisen, kurz gesagt, um den Habitus, der natürlich auch eine Klassenfrage ist, weil damit immer auch Handlungsoptionen verbunden sind oder eben nicht.
Eine andere wichtige Figur entwirft auf Denkzetteln eine utopische Gesellschaft. Würden Sie ihren Roman als engagierte Literatur bezeichnen?
Diese Zettel berühren häufig Fragen der Repräsentation, die ich für eine der wichtigsten politischen Fragen überhaupt halte, wenn es darum geht, wie Menschen über Menschen herrschen. Politik und Literatur sind rein sprachliche Diskurse, wobei ersterer halt auch den Wasserwerfereinsatz oder die Klagemöglichkeit von kenianischen Kleinbauern gegen Auswirkungen der Klimakrise regelt. In beiden Diskursen ist das Interessanteste; das, was nicht zur Sprache kommt, was aus mannigfaltigen Gründen verschwiegen wird oder gar nicht gesagt werden kann. Weil die Beteiligten im politischen Diskurs sich kaum damit befassen, warum und was nicht (angemessen) zur Sprache kommt, ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Literatur, sich diesem Sprachthema zu widmen. Sie stellt außerdem das Wie des Erzählens aus. Ich erzähle entlang der Zeit- und Körperlichkeit der einzelnen menschlichen Existenz, zwei solch grundlegende Ordnungen, dass sie im politischen Sprechen kaum eine Rolle spielen, als wäre es reine Privatsache, denn man hätte ja auch anders leben können oder man hätte sich halt nur mehr anstrengen müssen. Sprach’s und ließ sich die neuen Börsendaten liefern.
Markus Ostermair: Der Sandler. Osburg Verlag. 370 S., geb., 20€Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
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