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  • Jenseits des Lustprinzips

Enteignung der Negativität

100 Jahre Todestrieb: Sigmund Freuds Abhandlung »Jenseits des Lustprinzips« wurde verschieden interpretiert - eine marxistische Lektüre.

  • Tove Soiland
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Ausdruck von Sigmund Freuds tiefem Kulturpessimismus, ja gar eine seinem Alter geschuldete Spekulation, die jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehre - so betitelten Zeitgenossen den Aufsatz, der vor genau 100 Jahren unter der Überschrift »Jenseits des Lustprinzips« im Internationalen Psychoanalytischen Verlag in Leipzig erschien. Darin konzeptioniert Freud erstmals den Todestrieb. Es ist eine Schrift, die die Psychoanalyse bis heute spaltet. Viele ihrer Vertreter möchten sie lieber aus dem offiziellen Korpus der psychoanalytischen Literatur verbannt sehen. Und noch heute hat es der Text schwer, in den Kanon der klinischen Psychoanalyse aufgenommen zu werden.

Dabei war es weniger das Thema des Aufsatzes, das auf Ablehnung stieß: Freud widmet sich darin der Untersuchung des von ihm so bezeichneten »Wiederholungszwangs«, eine in der Klinik zu beobachtende Tendenz von Neurotikern - zu denen wir mehr oder weniger alle zählen -, unlustvolle Erfahrungen immer wieder von Neuem zu suchen. Stein des Anstoßes war vielmehr der Status, den Freud diesem Wiederholungszwang zuwies. Obwohl der Begründer der Psychoanalyse bis dahin das Lustprinzip als das grundlegende Organisationsprinzip des psychischen Apparates ansah, postuliert er nun, dass sich der Wiederholungszwang über das Lustprinzip »hinaussetzt«, ja gar »ursprünglicher, elementarer, triebhafter« als dieses sei.

Gleichzeitig verbindet Freud mit dieser Feststellung, die (wie er selbst sagt) »befremdende Annahme« der Existenz von Todestrieben, die er nun - und hier beginnt die Sache interessant zu werden - nicht dem Wiederholungszwang, sondern dem Lustprinzip selbst zuordnet. Während das Lustprinzip in seinem Bestreben nach Spannungsabbau letztlich zum Unbelebten zurückkehren will, scheint der Wiederholungszwang als dieses Jenseits des Lustprinzips nun vielmehr den Selbsterhaltungs- und Lebenstrieben zu dienen. Als eine Art »Zauderrhythmus im Leben des Organismus« können sie gegenüber dem Umstand, dass alles Leben zum Tode strebt, einen gewissen Umweg oder zeitlichen Aufschub gewähren. So steht der Wiederholungszwang als dieses Jenseits damit paradoxerweise auf der Seite des Lebens, nicht des Todes.

Vielleicht hat Freud dort die folgenreichste Wirkung gehabt, wo er widersprüchlich geblieben ist. Jedenfalls ist dieser Text, wohl nicht trotz, sondern wegen seiner Widersprüchlichkeit zu einem seiner meistkommentierten Aufsätze geworden. Seinen prominentesten Fürsprecher hatte er in dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981), der »Jenseits des Lustprinzips« zum eigentlichen Ausgangspunkt seiner »Rückkehr zu Freud« machte. In seinem sprachtheoretischen Verständnis des Todestriebes gab er diesem Jenseits eine spezifische Färbung, die diesem zwar seinen dämonischen Charakter beließ, es gleichzeitig aber aus der Vorstellung reiner Destruktivität herauslöste: Dass Triebe (wie der Wiederholungszwang) nicht einfach auf das eigene Wohlergehen zielen, ist für Lacan Ausdruck ihrer spezifischen Genese.

In Lacans Verständnis sind Triebe gerade kein »natürliches«, der Enkulturation vorgängiges Phänomen. Ihre Entstehung verdanken sie vielmehr einem dem Eintritt in die Kultur geschuldeten Verlust, den Lacan mit dem Umstand der Sprachlichkeit des Menschen in Verbindung bringt. Erst ein, in Lacans Worten, durch die symbolische Kastration hindurchgegangenes Genießen ist ein menschliches Genießen. Darin verbinden sich eine dem gesellschaftlichen Sein des Menschen geschuldete Privation und ein Mehr an Genießen untrennbar miteinander.

»Plus-de-jouir«, die Mehr-Lust - in der Doppelbedeutung eines »Nicht mehr« und eines »Darüber hinaus« - ist Lacans Wort für dieses Genießen, das in seiner Ambiguität auf eine für das menschliche Subjekt konstitutive Negativität verweist. Und die sollte man ihm auch nicht nehmen, wenn man es nicht seiner Würde berauben will. Was Lacan damit vorbringt, ist eine paradoxe positive Konnotation dieses Jenseits, insofern der Mensch nicht einfach nach Lust strebt oder eben: nicht nach einer einfachen Lust. So bleibt fraglich, ob es dieses Streben nach dem eigenen Wohl, wie es etwa dem nutzenmaximierenden Homo oeconomicus attestiert wird, überhaupt gibt.

Es ist dieser Punkt, an den die heutige Schule von Ljubljana um Slavoj Žižek, Alenka Zupančič und Mladen Dolar in ihrer marxistisch orientierten Lacan-Rezeption anknüpft. Zu einer solchen Rezeption hatte Lacan selbst Ende der 60er Jahre Anlass gegeben, als er in seinen Seminaren die revoltierenden Studierenden davor warnte, dass ihre Vorstellung einer »Triebbefreiung« letztlich einer neuen Herrschaftstechnologie diene. In einer gewissen Lesart des Freudomarxismus, wie sie sich zuweilen auch in der Frankfurter Schule beispielsweise bei Herbert Marcuses »Triebstruktur und Gesellschaft« findet, werden die gesellschaftlichen Zwänge für dieses Jenseits des Lustprinzips verantwortlich gemacht, die den Trieb so weit deformieren, dass er sich schließlich gegen das Individuum selbst richtet - mit der Konsequenz, dass es in einer »befreiten« Gesellschaft kein »Jenseits« mehr gäbe.

Die Schule von Ljubljana geht hingegen in die konträre Richtung: In Anlehnung an Lacan macht sie geltend, dass der Trieb seines wesentlichen Charakters verlustig geht, wenn man ihn der Negativität beraubt - womit der Verteidigung der Negativität selbst ein politisch emanzipatorisches Moment zukommt. Ihr Lacan-Marxismus postuliert vielmehr, dass es der Kapitalismus selbst ist, der uns mit seinem Versprechen eines positiven und verlustfreien, eines nicht durch die »symbolische Kastration« hindurchgegangenen Genießens ködert und gefangen nimmt. Er nimmt den Subjekten ihre Mehrlust, analog zum Mehrwert.

So hat Lacan in seinem Seminar XVII von 1969/70 dazu angeregt, neben den bekannten Formen der Ausbeutung noch eine dritte Form zu bedenken: Der Kapitalismus trennt nicht nur den Arbeiter von seinem Wissen und versteht es, ihm die Früchte seiner Arbeit vorzuenthalten. Er verfügt zudem noch über die paradoxe Möglichkeit, uns einer Negativität zu enteignen - in der ihm eigenen Verbindung von Liberalisierung und Askese. Wir werden damit im Namen eines objektiven Maßes des Guten der Möglichkeit zur Subjektivierung unseres eigenen Begehrens beraubt - mit dem Effekt, dass das Genießen selbst zum Über-Ich-Befehl wird. Es ist diese Enteignung einer Negativität, die in Lacans Einschätzung im Kern derjenigen Subjektstruktur steht, die der kapitalistischen Produktionsweise besonders affin ist.

So betrachtet, steht dieses »Jenseits« für ein subjektives Begehren, das sich jeder Vorstellung eines normativen Guten entzieht. In einer Zeit wie der jetzigen, wo der »Schutz des Lebens« selbst destruktive Züge anzunehmen beginnt, ist die Verteidigung einer Dimension jenseits des Lustprinzips bedenkenswert - jedenfalls aus einer marxistischen und kapitalismuskritischen Perspektive.

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