Das Geisterschloss

Mit seiner virtuellen Eröffnung kommt das Humboldt-Forum zu sich selbst: Über eine deutsche Attrappe von Weltoffenheit.

  • Jürgen Große
  • Lesedauer: 7 Min.

Covid-19 wollte es so: Diese Woche konnte das Humboldt-Forum mit einiger Verspätung doch noch eröffnen, wenngleich nur digital. Neben dem Kostenanstieg waren es immer wieder Baumängel gewesen, die eine analogweltliche Eröffnung verzögert hatten. Für die inzwischen knapp 700 Millionen Euro kam hauptsächlich die Staatskasse auf. Den Terminansagen jedoch traute irgendwann kaum jemand mehr. Kurz vor der avisierten Teilöffnung im Dezember waren zweitausend Funktions- und Sicherheitsdefekte bekannt geworden. Vor weiteren Tücken der Analogwelt bewahren vorerst Seuchenschutzauflagen. Dieser Wechsel vom Realen ins Virtuelle entspricht merkwürdig dem umstrittenen Status des Forums selbst.

Der Post-Palast

Man kann die gebaute Fiktion des Schlosses - »Humboldt-Forum« sagen immer noch die wenigsten - nicht ansehen, ohne dahinter die zerstörte Realität eines anderen Hauses zu erblicken. Mit Geldern des DDR-Steuervolks war der Palast der Republik einst errichtet worden, mit einem Millionenbetrag hatte die 1990 vergrößerte Republik ihn saniert und provisorischem Veranstaltungsbetrieb übereignet. Für den Abriss des Palastes, verschämt »Rückbau« genannt, votierten seinerzeit ein buntes Völkchen von Nachwendeprominenten, Architekturnostalgikern und natürlich Wilhelm von Boddien, ein Hamburger Landmaschinenhändler. Er gründete den »Förderverein Berliner Schloss«.

Eine Stimmung gegen das materiell noch Bestehende zugunsten des symbolpolitisch Wünschbaren, gegen Real- zugunsten von Fiktionalgeschichte überwog in den 1990er Jahren. Die meisten Schlossfreunde behandelten den Palastabriss als unvermeidlichen Nebeneffekt ihres Vorhabens. Friedbert Pflüger, seinerzeit CDU-Fraktionschef in Berlin, war da direkter. 2006 nannte er den Palast ein »Symbol der Diktatur«, deren postumer Anblick unzumutbar sei. Nun war allerdings rings um den Schlossplatz kein Mangel an solchen Symbolen. Nur wenige Meter entfernt stand das DDR-Staatsratsgebäude, in dem Schlossreste verbaut waren. Doch hatte Pflüger zweifellos etwas richtig gesehen. Der Palast war ein Denkmal dafür, dass man sich auch in einer Diktatur durchaus amüsieren kann. Die Frage, ob repressive Staatswesen das Leben intensiver, den Geist kreativer machen, hatte das bundesdeutsche Feuilleton der 1990er Jahre aufgeregt diskutiert.

Der Palast schien in diesem Kontext gleich mehrfach anstößig. Zum einen war er mit seinem Repräsentations-, Bildungs- und Amüsierzweck das typische Bauwerk einer Erziehungsdiktatur. Er war somit einer Hauptlinie preußisch-deutscher Geschichte mindestens ebenso nahe wie die geplante Barockhülse: dem aufgeklärten Absolutismus. Zum anderen widersprach die Palasthistorie jenem Revolutionsbegriff, wonach Umstürze eine unerträgliche Verelendung voraussetzen, mithin das gepeinigte Volk den Palast eigentlich hätte anzünden müssen. Stattdessen hatte es ihn als Gabe seines Herrschers gern angenommen.

Legitimationsprobleme

Hinsichtlich der Palastkosten hatte sich der Bauherr als überaus leichtsinnig erwiesen. Sein Vorgänger war ein sparsamer, nicht zu Volksverwöhnung geneigter Herrscher gewesen. Doch Erich Honeckers wie Walter Ulbrichts Glaube an ein gutes, also kommunistisches Ende der Geschichte war aufrichtig. Die Sprengung der Schlossruine verursachte Ulbricht keine Gewissensbisse. Zudem war dergleichen auch in den Westzonen vorgekommen. Bereits 1951 gab es Entwürfe für einen Volkspalast nach stalinistischem Bauvorbild. Ulbricht und Honecker begriffen »Volk« als Staatsvolk. Seine Basis erblickten sie in einer kulturwilligen Arbeiterklasse. Somit waren ihre Konzepte ideologisch stringent.

Mit stärkeren Legitimationsproblemen ringt ein Staatswesen, das sich als bürgerlich versteht. Seine soziale Abgrenzung gegen die Arbeiterschaft wie seine moralische gegen die Aristokratie hatte sich das Bürgertum, sofern politisch erfolgreich, gern als »kulturell« gedeutet. Die typische Schwäche bürgerlichen Selbstwertgefühls, aus der dauernden Spannung zwischen Aufstiegsehrgeiz und Abstiegsangst, ist im Schamwort »Kulturbürgertum« verklärt. Die europäische Adelsherrschaft bleibt das unerreichbare, zum Formzitat reduzierte Ziel seiner Nostalgien. Der Bau eines Schlosses - Machtsymbol von Herrschern und Eroberern - steht unter Rechtfertigungszwang. Es muss durch gegensinnige Füllung eine bürgerliche Freiheitstradition beschwören. Immerhin war das Hohenzollernschloss aus einer spätmittelalterlichen Zwingburg entstanden, die den Berliner Bürgerwillen hatte brechen sollen. Daher konnte einen Neubau einzig die ästhetisch-handwerkliche Qualität des Zerstörten legitimieren. Eine Reverenz vor den Baumeistern, nicht den Bauherren! Der alte Gegensatz von Geist und Macht, von wünschbarer und wirklicher Geschichte setzte sich unter gewandeltem Vorzeichen fort. Das »Kultur-Schloss, ein weltweit einmaliges Projekt« (so Gründungsintendant Horst Bredekamp), sollte sein einheitsdeutsches Symbol werden.

Verlegenheitslösungen

Jahrzehntelang war die BRD das Land der unteren Mittelklasse gewesen. Arrivierte Kleinbürgerlichkeit bestimmte den inneren und äußeren Stil Westdeutschlands. In ihrem »kulturbürgerlichen« Selbstverständnis schien die national-staatliche Dimension mühelos übersprungen. Man lebte landschaftlich und empfand transatlantisch. Man hatte die Deutsche Mark und fühlte sich als reisender Liebling der Völker. Man war geschichtsfreie Zone in einer Welt, deren Vergangenheit und Gegenwart bereit standen zu kulturellem Konsum. In keinem Land Europas dünkte sich Provinz - inzwischen nennt sie sich »die gute alte Bundesrepublik« - derartig weltoffen. Diese Gemütsspaltung repräsentiert das Kulturschloss-Projekt.

Der Nachbau der feudalzeitlichen Fassadenhülle und die Diskussionen um deren bürgergesellschaftliche Sinnfüllung liefen von Anbeginn nebeneinander her. Um nicht unter politischen Restaurationsverdacht zu geraten, mussten die Schlossfreunde auf den kulturellen Zweck verweisen. Die künftigen Nutzer wiederum - die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Humboldt-Universität, das Berlin-Museum - hatten rasch gelernt, die eng angesetzten Räumlichkeiten als Faktum zu akzeptieren. Bereits 2005 war klar geworden, dass in dem geplanten Bau nicht wie ursprünglich vorgesehen die Berliner Landesbibliothek unterzubringen war. Die alternativen Nutzungskonzepte rechneten ebenfalls mit einer Verringerung der Grundfläche. Kurz: Name und Idee »Humboldt-Forum« für das Palastsubstitut waren auch eine Verlegenheitslösung. Die behauptete Verbindung zwischen dem Bau, seinem Zweck und dem Namen Humboldt wirkt forciert. Sie besteht vor allem darin, dass Objekte aus einer Kunstkammer des alten Schlosses einst in die Sammlungen jener Universität gelangt waren, die später den Namen Humboldts tragen sollte.

Der Vorschlag, die ethnologischen Sammlungen aus Berlin-Dahlem nach Berlin-Mitte zu holen, war von den Schlossbaufreunden als bezwingende Nutzungsidee gefeiert worden. Eine Raubkunstdebatte hatten sich wohl weder die künftigen Nutzer noch die rot-grüne Bundesregierung bei ihrem Baubeschluss 2002 träumen lassen. Das Argument in Kürze: Das Ex-Stadtschloss der preußischen Könige erinnert an einen Staat, von dem als ehemaliger Kolonialmacht »Gewalt« ausging. Ihrer Eroberungs- und Ankaufpolitik verdankt man einige der geplanten Exponate. Dieser problematischen Anschaffungsgeschichte soll, so die Stiftungsinitiative »kosmosdigital Humboldt Forum«, durch »multiperspektivische Aufarbeitung von Objekten via Video« begegnet werden.

In der aktuellen Postkolonialismusdebatte zeigt sich das andere Extrem bundesdeutscher »Kultur«-Bürgerlichkeit: der global ausgreifende und dadurch abstrakte Moralismus. Das Ideal der eigenen Kultur ist Welt- und Schuldlosigkeit. Da es keine Kultur ohne Geschichte, keine Geschichte ohne Gewalt gibt, imaginiert man das Eigene als Diskussionsrahmen, worin die Vielfalt des Fremden sich entfaltet. Das ist Geistergeschichte; eine subtilere Musealisierungsform, doch ebenso vom Glauben an eine konstruierbare Identität getragen.

Fass ohne Boden

Grundsätzlichen Zweifel am Neubau und seiner geplanten Funktion äußerte zuletzt Wolf R. Eisentraut. Der Dresdner Architekt war verantwortlich für den Mittelteil des Palastes der Republik. SED-Parteitage, sagte er in einem Interview, hätten dort nur alle vier Jahre stattgefunden. Zwischendurch war »der Palast ein öffentliches Haus«: »Das ist weg und wird ersetzt durch ein spezialisiertes Haus für Leute, die ein Museum besuchen wollen.« Kongresse könnten dort nicht mehr stattfinden, würden in Messehallen verlegt. »Für eine Stadt, die sich Weltstadt nennt, ist das lächerlich.«

Tatsächlich ist das Schloss-Forum außen wie innen als Museum konzipiert. Doch vor allem ist es ein Monument bundesdeutscher Bürgerlichkeit. Diese, aus den großen und kleinen Städten des Westens nach Berlins Mitte gezogen, möchte hier noch einmal ihre - lange unbefragten - Vorstellungen von der eigenen Weltoffenheit zelebrieren.

Das sind zugleich Erinnerungen an eine gute alte Zeit, als man deutscher Real- und Macht- und Schuldgeschichte glücklich entkommen schien. Reale Geschichte, fremde Erfahrung ist diesem Bundesbürgertum unheimlich. Ihre Zeugnisse erregen Angst und Abwehr. Wenn sie in die Gegenwart hineinragen, müssen sie beseitigt werden wie der Palast. Vergangenes, Fremdes ist entweder als Architekturzitat oder als Weltkulturgut zugelassen. Bauästhetische Preußenfreunde wie moralisch wachsame Postkoloniale träumen sich in eine virtuelle Geschichte hinein. In ihr darf man selbst bestimmen, wer man sei und wem man etwas schulde. Solche Träume spiegeln eine jahrzehntelange Gewissheit Westdeutschlands, nämlich die, nicht wirklich haftbar zu sein. Ob Russlandreparationen oder Reminiszenzschlösser, zahlen sollten stets andere oder - seit 1990 - alle. »Der Westen ist ein Fass ohne Boden«, hat ein sächsischer Satiriker behauptet. Das Schlossprojekt verstärkt diesen Argwohn.

Jürgen Große ist Historiker. Zuletzt erschienen: »Die Sprache der Einheit. Ein Fremdwörterbuch«, Vergangenheitsverlag, 572 S., geb., 25 €.

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