Lust am Spektakel
Ein Buch über das italienische Thrillerkino von 1963 bis heute
Der italienische Thriller unterscheidet sich in mindestens einem zentralen Punkt von der angloamerikanischen Thriller- und stärker noch von der deutschen Krimi-Tradition. Grob, also idealtypisch formuliert (und die Ausnahmen und Vermischungen ausgeklammert): Während in der angloamerikanischen Tradition klassischerweise das Gewicht auf der Wiederherstellung des Zustands vor der eruptiven Störung im Zentrum der Anstrengung sowohl des Kriminalisten wie auch des Films selbst steht, bestimmen im italienischen Giallo - so wird das Subgenre seit seiner Entstehung Anfang der 60er Jahre genannt - durchweg Perversitäten, Affektwirrwarr und Wahnhaftigkeit das Geschehen. Ein wünschenswerter Zustand, der kraft der Logik, der Deduktion und der Heldenhaftigkeit gerettet und bewahrt werden könnte, ist im italienischen Giallo eigentlich nicht auszumachen.
Der Bremer Filmgelehrte Christian Keßler bestimmt die Differenz glasklar: Der Giallo redet »nicht der Ratio das Wort (oder dem, was für Ratio ausgegeben wird), sondern der Irratio, die der Natur des Menschen ebenso zu eigen ist wie der tägliche Harndrang«. Sein Buch »Gelb wie die Nacht« ist eine umfassende Darstellung eines der farbenfrohsten und stilverliebtesten Stränge in der Geschichte des Kinos. Über 250 werden mit je einem Text bedacht, chronologisch geordnet von 1963 bis 2020. Damit schließt der Band an Keßlers ebenfalls erschöpfende Bücher zum Italo-Western, »Willkommen in der Hölle«, und an »Die läufige Leinwand«, sein Buch zum US-Hardcore-Film.
Keßlers Schreiben über Filme zeichnet sich nicht zuerst durch analytische Tiefe und eben schon gar nicht durch die filmwissenschaftliche Simulation von Tiefe aus, sondern durch eine wirklich umfassende Kenntnis des Genres, um das es ihm geht, und durch den unendlichen Spaß, den er mit diesem Genre spürbar hat. Der überträgt sich vom Text auf den Leser. Während das Lesen zumindest der meisten deutschsprachigen filmwissenschaftlichen Abhandlungen wirklich Arbeit ist, stimuliert der radikale Subjektivismus Keßlers, der seine formulierfreudigen Einschätzungen aber immer plausibel macht, Heiterkeit und Neugier bei Leserin und Leser.
Und der Giallo ist für diese Schreibweise ein idealer Gegenstand, ist das Genre doch bestimmt von der Lust am Schauwert und am Spektakel. Gerne auch auf Kosten der nicht immer nachvollziehbaren Handlungsverläufe. Das gilt bereits für einen der Urtexte des Giallo, Mario Bavas »Sei donne per l’assassino« (»Blutige Seide«) von 1964. Der Plot, schreibt Keßler, »passt auf einen Bierdeckel«. Die Qualitäten dieser Bilder liegen anderswo: »Was die Artifizialität der Präsentation und somit die Entmachtung der Handlungsinformationen als treibende Kraft des Filmes angeht, macht Bava hier Nägel mit Köpfen.« Bei der Erstsichtung dieses Films springen einem die grellen, atmosphärisch reichen Farben entgegen, um insbesondere in den zahlreichen Mordszenen die latent surreale Atmosphäre des Ganzen zu befeuern. Während der Kommissar eben »weitgehend erfolglos herumermittelt«.
Im Giallo herrscht das Primat der Atmosphäre und der durchkomponierten set pieces - sorgfältig und mit einem zum Effekt wesentlich beitragenden Sadismus inszenierte Mordszenen. In Dario Argentos ebenfalls stilbildenden »L’uccello dalle piume di cristallo« (»Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe«) - auch hier herrscht zum Beispiel »eindeutig die Hoheit des Spektakels über die Narrative«.
Damit wären zwei der vielen Meisterwerke genannt, die Keßler Leserin und Leser ans Herz legt. Stichproben haben ergeben: Man kann sich auf seine Einschätzungen eigentlich immer verlassen, Lucio Fulcis »Non si sevizia un paperino« (»Quäle nie ein Kind zum Scherz«) ist tatsächlich ein intensiver und wütender Film, die Thriller Luciano Ercolis sind stylish ohne Ende, und eine so entgrenzt-delirierende Gurke wie »Delirio caldo« (»Das Grauen kommt nachts«) ist in der Geschichte nicht nur des italienischen Kinos nahezu singulär. Es gibt massig viel zu entdecken auf den knapp 350 Seiten.
Dass Filme, in denen sich die Killerfiguren typischerweise durch »familiäre Sexualkatastrophen hindurcharbeiten« und diese als Motivation und Anlass für filmisch zelebrierter Gewaltbilder nehmen, immer wieder in die Misogynie kippen und dann wirken wie ein ästhetisch verklärter Hassausbruch, wird von Keßler natürlich gesehen und auch benannt. Der Liebe zum Genre tut das keinen Abbruch, auch weil Keßler in seinem Filmverständnis generell nicht politisch oder moralisch wertet, sondern auch das Verblödete und das Kaputte nicht ausschließt, sondern es in seiner offenherzigen Kaputtheit würdigt. Man sieht dann wenigstens, woran man ist. Wirklich niedergemacht wird hier kein Film, Verrisse sind dezent, aber deutlich formuliert, zum Beispiel so: »Ich bin grundsätzlich gegen das Verbieten von Filmen, aber in diesem Fall sollte man nicht allzu lange nach ihm suchen.«
Alles in allem ist »Gelb wie die Nacht« eines der schönsten und überbordendsten Filmbücher des Jahres geworden, das - müsste man nicht davon ausgehen, dass der Leserkreis für so ein Spezialistenthema sehr klein ist - viel zur Würdigung und Rettung des Kinos als momentan eher untergehende Kunstform beitragen könnte. Denn wenn es stimmt, dass jedes Bild des Genrekinos aus Angst und Lust zusammengesetzt ist, wie Georg Seeßlen einmal sinngemäß geschrieben hat, dann ist der Giallo so etwas wie ein ideales Kinogenre. Mit all seinen Pathologien und Ambivalenzen.
Christian Keßler: Gelb wie die Nacht. Das italienische Thrillerkino von 1963 bis heute. Martin-Schmitz-Verlag, 352 S., geb., 35 €.
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