Karel Gott muss mitspielen

Die »Film-Konzepte« stellen die Werke der unberechenbaren Věra Chytilová vor

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Fotomodell (Marta Kaňovská) ist von der Welt angeödet, will vor ihr und sich selbst fliehen, aber trifft zu ihrem Unglück überall auf Plakate, auf denen sie mit irgendeiner Luxusware posiert (»Decke«, 1961). Die Spitzensportlerin (Eva Bosáková) hat ihre mühselig eingeübten Sprünge am Barren vorgeführt, das Publikum ist abgezogen. Da besteigt eine plumpe Reinigungskraft den Barren und wirft sich in Positur. Alle Reinigungskräfte klatschen begeistert Beifall. (»Von etwas Anderem«, 1963) Während einer ausgelassenen Hochzeitsfeier wird ein Mann erhängt in der Abstellkammer gefunden, die Braut (Věra Mrázková) trinkt Wasser aus ihrem Schuh, zieht mit einem selbstmörderischen Künstler (Vladimír Boudník) ab, ihr Schleier wird vom Sturm kerzengerade in die Luft gepustet. (»Stehimbiss Welt«, 1965) Zwei Mädchen (Ivana Karbanová und Jitka Cerhová) tanzen über ein mit Speisen und Getränken üppig beladenes Büfett, beschmeißen sich mit Torte und kleiden sich in Vorhänge, die sie von ihren Stangen reißen. (»Tausendschönchen«, 1966)

Die Filme von Věra Chytilová (1929-2014) bersten schier vor Energie, visuellen Einfällen und Bosheit. Sie stehen in der großen Tradition des tschechischen Absurdismus und Surrealismus.

Zu diesem aufregenden Œuvre gab es bislang so gut wie keine Literatur in Deutschland. Die Lücke schließt ein Band aus der Reihe »Film-Konzepte«. Endlich sind Hintergründe auch zu denjenigen Spiel- und Dokumentarfilmen zu erhalten, die die Chytilová außer den »Tausendschönchen«, ihrem einzigen internationalen Erfolg, gedreht hat. Allerdings irritiert, dass die Beiträge des Bandes immerzu das Kino des Ostens an dem des Westens messen. Es mutete schon bei der Leipziger Ausstellung »Point of No Return« (2019) merkwürdig an, dass sie nachweisen wollte, alle westlichen Kunstströmungen habe es, obgleich vereinzelt, auch in der DDR gegeben.

Im Fall von Chytilová und der tschechischen »Neuen Welle« soll die »Nouvelle Vague« die Norm vorgeben. Es ist, als hätte Jean-Luc Godard, der die Chytilová übrigens als »Revisionistin« beschimpfte, in Paris das ästhetische Urmeter niedergelegt, an dem nun alle Maß zu nehmen hätten. Der Abgleich ergibt, dass manches, was er eingeführt hat - Einsatz von Handkamera, subjektive, sprunghafte Montage, Collagetechnik -, auch bei Chytilová vorkommt, vieles aber nicht. Ihre Filme zeigen, wie die meisten aus dem Ostblock, arbeitende Menschen, denken von der Produktion her. Ein groteskes Moment zieht sich durch, es ist noch in »Das Erbe« (1992) stark, einem Film, der auf burleske Weise von Privatisierungen und Neureichen handelt; auch Karel Gott muss mitspielen. Der Film fiel durch. Sozialsatire? Wie kommt sie auf so etwas? Hat sie jetzt nicht alle Freiheit für die Formexperimente?

Lächerlich ist der Vergleich mit der »Nouvelle Vague« aber schon bei Chytilovás Hauptwerk, »Früchte des Paradieses« (1969), einer Satire auf naive Vorstellungen vom Sozialismus und Wahrheit. Vergleiche zieht die Geschichte vom Satan als Verführer, Lehrer und Mörder zuhauf an, aber sicher nicht mit Godard oder François Truffaut. »Früchte des Paradieses« beginnt, stets getrieben von Zdeněk Liškas Musik, wie ein kosmischer Experimentalfilm von Stan Brakhage, wird bald allegorisch wie František Vláčils »Marketa Lazarová« (1967), aber im Übermaß, eine Allegorie überblendet grell die andere. Unverkennbar ist der Einfluss des tschechischen Surrealismus, etwa von Toyen, Karel Teige oder Jan Švankmajer. Die Tschechen mischten ihrem Surrealismus viel Absurdes bei, das verlieh ihm etwas Dunkles und Verspieltes. Und diese eigenartige Mischung findet sich auch in »Früchte des Paradieses«. Das Werk ist zugleich leichtfüßige Commedia dell’arte und hermetisches Spiel mit Bildern, die ihren Sinn verloren haben. Damit stieß Chytilová alle vor den Kopf: die Realisten mit Surrealem, die Formalisten mit Gehalt, die Bürokraten mit Unordnung und die Bürger mit Aufruhr. Der Film hätte jeder Kinokarriere überall auf der Welt ein sicheres Ende bereitet und wurde prompt verboten, die Regisseurin erhielt einige Jahre lang Berufsverbot.

Obwohl sie von Anfang für Frauen gekämpft hat, wehrte sich Věra Chytilová dagegen, eine feministische Filmemacherin zu sein. Statt des parallelen Lebens von frustrierter Hausfrau und frustrierter Spitzensportlerin in »Von etwas Anderem« hätten ebenso gut zwei Männer gezeigt werden können. Das stimmt zwar nicht ganz - welcher Spitzensportler hätte sich von seinem Trainer ohrfeigen lassen? -, aber erinnert daran, dass die reflektierte Kunst des Realsozialismus mit ihren Formen stets auf Voraussetzungen, niemals auf die Formen allein abzielte.

»Film-Konzepte«, 58: Margarete Wach (Hrsg.): Věra Chytilová. edition text + kritik, 114 S., br., 20 €.

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