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Innere Einheit als reaktionäres Projekt
Kapitalistische Ideologie schlägt sozialistischen Erfahrungshorizont: Wolfgang Pohrt über die Wende
Die zu sehr großen Teilen fadenscheinigen Diskussionen über einen deutschen Ost-West-Konflikt im 30. Jahr der Einheit kranken an einem substanziellen Mangel. Über eines wird nämlich gar nicht gesprochen: über den Sozialismus. Man kann natürlich noch so lange und elaboriert darüber klagen, dass den Ostdeutschen ihre »Lebensleistung« anerkannt werden muss. Solange nicht darüber vernünftig reflektiert wird, dass zur »Lebensleistung« der entsprechende institutionelle Hintergrund gehört, also die sozialen Grundlagen der DDR, ohne die hier niemand irgendetwas geleistet hätte, solange verläuft die Debatte im Resonanzraum des bemühten Irrationalismus, dem ja außer »Diktatur«, »Unrecht« und »selber Schuld« nichts einfällt.
Spätestens in dem Moment der Wende 1989/90, als es die allerersten Ansätze von Zusammengehörigkeitsambitionen zwischen BRD und DDR gab, musste hellsichtigen Beobachtern klar sein, dass da nicht nur Ungleiches, sondern komplett Unzusammengehöriges zusammenkommen sollte. 60 Millionen Bundesbürger, denen der Sozialismus einen Dreck wert war (abzüglich von vielleicht fünf Prozent Unbelehrbaren mit höchst vagen Vorstellungen), trafen auf 17 Millionen DDR-Bürger, von denen 80 Prozent ihr Land bis dahin ganz gut gefunden hatten. Wenn zwar auch nicht immer aus sozialistischen Gründen, hätten die DDR-Bürger zumindest in ihrer übergroßen Mehrheit immerhin wissen können, welche Vorzüge ihnen der Sozialismus gewährt. Schon rein zahlenmäßig war also das Ergebnis der Rechnung offensichtlich: Kapitalistische Ideologie mit Massenbasis schlägt sozialistischen Erfahrungshorizont.
Diese Prämisse bildete auch das Fundament einer der erstaunlichsten empirischen Sozialstudien der Nachkriegszeit, die durch glücklichen Zufall genau in der Wendezeit entstanden ist. »Der Weg zur inneren Einheit. Elemente des Massenbewusstseins BRD 1990« des Soziologen Wolfgang Pohrt (1945-2018) versuchte anhand qualitativer Erhebungen in den Jahren 1989/90 den mentalitätsgeschichtlichen Zustand von Bundesbürgern zu erfassen. Als am 29. Januar 1989 erstmals die Partei Die Republikaner, Nachfolgerin von Alldeutschem Verband über NSDAP bis NPD und Vorgängerin der AfD, mit gut sieben Prozent Stimmanteil in das Westberliner Abgeordnetenhaus einzog, da reifte in Pohrt der Entschluss, in der Tradition der großen empirischen Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zur autoritären Persönlichkeit mit dem gleichen methodischen Instrumentarium eine aktualisierte Version zu erstellen.
Allerdings entwickelte sich im Forschungsverlauf eine Reihe von Problemen, die das ganze Unternehmen torpedierten: Zum einen gelang es Pohrt nicht, eine ausreichende Anzahl von Querschnittsprobanden zu erreichen, zum anderen stimmten die Korrelationen der Antworten oftmals statistisch nicht überein. Zum dritten musste er außerdem konstatieren, dass der methodische Rahmen seiner Testaussagen, die sich an der berühmten F-Skala (der Faschismus-Skala) von Adorno aus den Erhebungen zum autoritären Charakter in den USA orientierten und bei Pohrt den Namen Michel-Skala bekamen, nicht ausreichte, um tatsächlich valide und generalisierbare Aussagen zu erhalten. Aus dieser Zwickmühle machte Pohrt hingegen eine Tugend und widmete seine Massenbewusstseinsstudie dahingehend um, dass er nunmehr seine eigenen Interpretationen der vorhandenen Testaussagen zum genuinen Mit-Gegenstand der Untersuchung machte und damit gleichzeitig das erreichte, was eigentlich immer Bestandteil der empirischen Sozialforschung ist, von den Forschern aber nie so zugegeben wird: Erkenntnisinteresse und Wertorientierung der Untersuchenden fließen immer in die Ergebnisse mit ein. Dies offengelegt zu haben, war, neben den doch sehr bezeichnenden Testresultaten, der eigentliche methodische Gewinn des Unterfangens.
Aus der Michel-Skala wurde bei Pohrt eine modifizierte Konsens-Skala, die in einem zweiten Feldversuch nicht mehr politisch so offenkundig reaktionären Leuten wie im ersten vorgelegt wurde, sondern Testpersonen aus seinem eigenen politisch linken Umfeld, »rot-grünem Klientel«, sich selbst als links bezeichnenden Studenten und einem Bekanntenkreis im weiteren Sinne. Bei den 55 Aussagen, die in beiden Skalen verwendet wurden, reichte die Bandbreite der Behauptungen von der Einbindung der Freiheit in die Gemeinschaft bis hin zu UFO-Glaubenssätzen und dem Abstreifen der Fesseln der Zivilisation. Die Pointe aller Sätze bestand darin, dass sie bei Zustimmung auf Autoritätshörigkeit und Demokratiefeindlichkeit abzielten und unter der Hand das faschistische Potenzial der Aussagenden zu Tage förderten. Unter vernunftgemäßen Vorzeichen hätte keine der Aussagen auch nur einen einzigen Zustimmungswert bekommen dürfen. Stattdessen waren selbst die Probanden der Konsens-Skala, wie erwähnt, eher eigendefiniert links, bei allen Aussagen in einem mehrheitlichen Zustimmungsbereich von 55 bis 80 Prozent, was bei Auffassungen wie »Zuwanderung führt zum Chaos« oder »Plötzlicher Reichtum überfordert kulturlose Völker«, auch wenn sie noch so widersinnig sind, auf Signale eines gravierenden Sozialisationsdefizits schließen lassen mussten.
Nicht nur, dass eine innere Einheit anhand dieses konsultierten Massenbewusstseins in der Alt-BRD meilenweit von jeder Anwandlung des Sozialismus entfernt war - das Ganze dann auch noch als Modell für Gesamtdeutschland progressiv zu verkaufen, konnte nicht anders enden, als dem Sozialismus auf deutschem Boden den Garaus zu machen. Viele Effekte der diffusen Missgunst, des gefühlt zu kurz gekommenen Kleinbürgertums, der »verfolgenden Unschuld« (Karl Kraus) und der Vernichtungsfantasien, die vor 30 Jahren den Republikanern zugeordnet wurden, finden sich heute ungefiltert in der AfD-Wählerschaft wieder.
Am meisten verstörte aber Pohrts generelles Fazit: »Der unerschöpfliche Vorrat an Rechtfertigungen, der einen ebenso monströsen Amoralismus bemäntelt, ist eines der wirklich beunruhigenden Elemente nicht nur im hiesigen Massenbewusstsein, sondern auch in der hiesigen offiziellen Politik. Alle Gruppen, von den etablierten Parteien bis zum Restbestand außerparlamentarischer Opposition, zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine festen politischen, moralischen oder ökonomischen Prinzipien besitzen, sondern eigentlich für jeden Schwenk und jede Kehrtwendung so offen sind, wie es die Sozialdemokratie 1914 war, als sie vom Internationalismus und Pazifismus zur Begeisterung für den vaterländischen Krieg überlief. Aus den Wandlungen beispielsweise, welche die bundesrepublikanische Linke in den 20 Jahren seit 1969 schon durchgemacht hat, ist auf eine Flexibilität zu schließen, für die es keine Grenzen gibt. Das Beunruhigende an den Verhältnissen in der BRD ist also, dass man weder von der Bevölkerung noch von politischen Gruppen sagen kann, was sie mit Sicherheit nicht tun würden.« Diese Einschätzung hat nichts an Gültigkeit verloren.
Auch wenn Wolfgang Pohrt in seinen letzten Lebensjahren den Kampf um eine fortschrittliche Gesellschaft aufgegeben hat, so besitzt die von Klaus Bittermann besorgte Werkedition seiner Schriften einen hohen dokumentarischen und wissenschaftlichen Wert. Die Einheitsstudie entspricht dem Band 6, gefolgt von wichtigen Artikeln und Aufsätzen zur reaktionären Nachwendekrise mit allen soziopathischen Verwerfungen vom Ausländerhass bis zum Großmachtimperialismus in Band 7. Beide Bücher zusammen ergeben ein gehaltvolles und erschütterndes Panoptikum aus der Zeit, als die Zukunft abgeschafft wurde und die Dauerkrise der perspektivischen Vernunft ihre institutionelle Zementierung erfuhr. Aus der inneren Einheit hätte wohl nur dann kein reaktionäres Projekt werden können, wenn die gesellschaftliche Entwicklung der BRD grundsätzlich anders verlaufen wäre.
Wolfgang Pohrt: Der Weg zur inneren Einheit. Elemente des Massenbewusstseins BRD 1990. Werke 6. Hrsg. von Klaus Bittermann. Edition Tiamat, 472 S., geb., 30 €.
Wolfgang Pohrt: Das Jahr danach. Texte & Kommentare 1990-1992. Werke 7. Hrsg. von Klaus Bittermann. Edition Tiamat, 528 S., geb., 30 €.
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