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Wie man Geschichte prüft
Der Historiker Wolfgang Wippermann ist tot. Ein persönlicher Nachruf von Karsten Krampitz
Aber Sie haben schon Geschichte studiert?» Eine Frage, die man so gar nicht in seinem Rigorosum hören will - doch das ist mir tatsächlich passiert: Vor sechs Jahren habe ich am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin meine Dissertation verteidigt. Der Zweitgutachter und damit der zweite Prüfer hieß Wolfgang Wippermann, seines Zeichens außerplanmäßiger Geschichtsprofessor am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Während meiner offiziellen Disputation platzte er mit dieser Frage heraus! Doch von vorn ...
Im Jahr zuvor hatte ich selbst ihn überredet, mein Zweitgutachter zu werden. In der Geschichtswissenschaft sind die meisten Professoren stockkonservativ. Mein Doktorvater Gerd Dietrich ist eine der wenigen Ausnahmen. Mit einem Promotionsstipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat man jedenfalls keine guten Karten. Wippermann war anders. Obgleich er bei Ernst Nolte promoviert und habilitiert und in seiner Studentenzeit sogar einer schlagenden Verbindung angehört hatte, war er einer der wenigen linken Geschichtsprofessoren, die noch an der Universität lehren.
Im Februar 2014 hielt er in Berlin in der gut besuchten Urania einen Vortrag zum Thema «Die Wehrmachts-Verschwörung zwischen Hitler und der Reichswehr». Und Wippermann konnte erzählen: vom Geheimtreffen Hitlers und der Generäle der Reichswehr am 3. Februar 1933, bei dem die Zerstörung der Demokratie wie auch die völkerrechtswidrige Aufrüstung und die Vorbereitung eines Angriffskrieges zur Eroberung von «Lebensraum im Osten» besprochen und verabredet worden war. Wie Wippermann resümierte, waren zu dieser Zeit die Weimarer Gesetze noch in Kraft; folglich handelte es sich bei dem Treffen um illegale Handlungen. Wie Prof. Wippermann sagte: «Die Verschwörung der Wehrmacht führte zu den Verbrechen der Wehrmacht», das klang so gar nicht nach Stauffenberg und: «Es lebe das heilige Deutschland!»
Nach dem Vortrag ging ich zu ihm ans Pult, stellte mich vor und sagte, ich bräuchte für meine Doktorarbeit noch einen Zweitgutachter. «Warum nehmen Sie nicht den von Ihrer Magisterarbeit?» - «Besser nicht.» - «Warum nicht?» - «Baberowski.» Mehr brauchte ich nicht zu erklären. «Kommen Sie in meine Sprechstunde.»
Vom Gegenstand meiner Dissertation, die Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz, war Wippermann dann so gar nicht angetan. Die DDR-Kirche sei nicht sein Fachgebiet. Das sah ich anders - Wippermann hatte Bücher zur DDR und zur Kirche herausgebracht. Eines davon, das 2009 bei Rotbuch erschienen war, hatte mich beeindruckt: «Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich».
Wippermann lehnte jegliche Totalitarismustheorie ab. Die Sowjetunion war zu verschiedenen Zeiten verschieden, ebenso die DDR. Hubertus Knabe war für ihn ein Großinquisitor, die Stasi-Unterlagen-Behörde eine Art Orwell’sches Wahrheitsministerium. Besonders aber wetterte er gegen die einstigen Bürgerrechtler, die ihre mangelnde fachliche Kompetenz «durch einen umso größeren Anklageeifer ausglichen». Den Religionssoziologen Ehrhart Neubert nannte er ein «besonders abschreckendes Beispiel». Neubert hatte die DDR als das «real existierende größte Isolierungslager mit 17 Millionen Insassen» bezeichnet. In der Sprechstunde erzählte ich ihm, dass Neubert, «wie Sie in meiner Arbeit lesen werden», noch 1976 der Block-CDU beigetreten war, im Brüsewitz-Biermann-Jahr. Und so wurde er neugierig.
Weil ich seit etlichen Jahren kein Seminar mehr besucht hatte, mein Betreuer emeritiert war, ich also keinerlei Austausch mit anderen Promovierenden hatte, sollte ich die nächsten Monate sein Doktorandenkolloquium besuchen, um dort vorab die Prüfung zu üben. Und so geschah es dann auch. Noch gut erinnere ich mich an die Rundmail, in der Wippermann bitterlich klagte, er sei grade in Thailand aufs Gemeinste ausgeraubt worden. Offenbar hatten Hacker seinen Account geknackt. Also bat der Professor seine Schützlinge um Handzeichen, wer ihm Geld überwiesen habe. «So, so. Niemand. Angenommen ich wäre tatsächlich in einer akuten Notsituation: Meine Studenten und Doktoranden würden mir nicht helfen. Gut zu wissen.»
Insgesamt viermal haben wir meine Prüfung simuliert, und dreimal war ich, nach seinem Urteil, durchgefallen. Die Doktorarbeit hätte ich noch halbwegs verteidigt; das Problem waren die beiden anderen Schwerpunkthemen, zu denen ich als Prüfling im Rigorosum der Humboldt-Universität befragt werden sollte.
So erklärte sich dann, dass ich am Tag der offiziellen Disputation nicht nur über die Persönlichkeitsstörung eines DDR-Pfarrers reüssierte und über einen verleumderischen Artikel im «Neuen Deutschland», der seinerzeit eine enorme Protestwelle ausgelöst hatte. Darüber hinaus musste ich einen ausführlichen Vortrag über Luthers Antisemitismus halten und noch dazu über die Revolution 1848/49 referieren.
Beim letzten Thema angekommen, zeigte ich Schwäche. Allein die Frage, ob man die Vorgänge jener Zeit wirklich als Revolution bezeichnen kann, füllt ganze Bände. Doch ich wusste Rettung! Ein Wippermann-Doktorand, der schon bei der Masterprüfung dazu von ihm befragt worden war, hatte mir den Tipp gegeben: «Wenn du nicht mehr weiterweißt, erwähne seinen Vorfahren!» Karl Wilhelm Wippermann, Abgeordneter in der Paulskirche, den ich dann im Rigorosum - es sollte ironisch klingen - zum Revolutionsführer erklärte. Darauf unterbrach der dritte Prüfer respektive die Prüfungsvorsitzende meinen Vortrag. (Neben meinem Doktorvater und dem Zweitgutachter war sie, die Mittelalterprofessorin, die Dritte in der Jury.) Sie wollte wissen, ob ich das mit dem «Revolutionsführer» auch mit Quellen belegen könne. Oh Gott, dachte ich, das war ein Witz! Woraufhin Professor Wippermann dazwischenging. Doch war seine eingangs erwähnte Frage nicht an mich gerichtet, sondern an Frau Professor: «Aber Sie haben schon Geschichte studiert?» Und einen Moment später: «Sie sind Historikerin, oder?» Offenbar war Karl Wilhelm Wippermann eine bedeutende historische Persönlichkeit. Wieder was gelernt.
Am vergangenen Sonntag ist Wolfgang Wippermann im Krankenhaus gestorben, wo er seit Anfang November schwer krank gelegen hatte. Am 29. Januar wäre er 76 Jahre alt geworden. Ich habe ihn sehr gemocht.
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