Das Ergrünen der Antarktis

Der Klimawandel verändert den südlichsten Kontinent. Eisfreie Flächen bieten Lebensraum für Moose und Flechten, angestammte Tiere ziehen näher zum Pol.

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Antarktis ist ein einzigartiger Lebensraum. Da sie fast vollständig mit Eis bedeckt ist, leben dort nur wenige, optimal an die unwirtlichen Bedingungen angepasste Pflanzen- und Tierarten. Deutlich mehr als die Hälfte der in der Antarktis heimischen mehrzelligen Lebewesen kommen nur dort vor. Wissenschaftler*innen sind sich einig, dass es dieses Ökosystem zu erhalten gilt. Doch mit fortschreitendem Klimawandel beobachten sie zunehmend Veränderungen in der Artenzusammensetzung.

Unter der Leitung des Meeresbiologen Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) haben 24 Wissenschaftler*innen in dem internationalen Großprojekt Antera Hunderte von Fachartikeln über die Antarktis, vorrangig aus den letzten zehn Jahren, ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Metastudie erschienen kürzlich im Fachjournal »Biological Reviews«. Ulf Karsten, Professor für Angewandte Ökologie an der Uni Rostock und Koordinator des Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) »Antarktisforschung mit vergleichenden Untersuchungen in arktischen Eisgebieten«, spricht von einer sehr überzeugenden und soliden Arbeit: »Das aktuelle Paper ist sehr wichtig, denn es zeigt, welche Konsequenzen sich für das antarktische Ökosystem aus den glazialen Masseverlusten und Veränderungen ergeben«, sagt er.

Schwindendes Meereis vertreibt Kaiserpinguine

Gutt und Kolleg*innen halten eine weitere Erwärmung der antarktischen Gewässer infolge des Klimawandels für sehr wahrscheinlich. Damit würde die Meereisbedeckung weiter schrumpfen. Bereits seit Ende der letzten Eiszeit wachsen in Teilen der Antarktischen Halbinsel Moose und Flechten. Diese könnten sich bei zunehmender Eisschmelze weiter ausbreiten und zudem in den nächsten Jahrzehnten weitere Moos- und Flechtenarten sowie Blütenpflanzen aus wärmeren Regionen in die Antarktis einwandern.

Neue Arten finden sich bereits auf den Subantarktischen Inseln, am Rande des Kontinents, wo es nicht ganz so kalt ist. Auch Verwandte des Löwenzahns wurden dort bereits gesichtet. »Blütenpflanzen sind sonst in der Antarktis extrem selten«, erzählt Gutt. »Sie brauchen ja einen Bestäuber.« Erst wenn im Zuge des Klimawandels auch Insekten auf den Kontinent gelangen, können sie sich weiter verbreiten. »Damit erhöht sich die Lebensvielfalt, aber zu welchem Preis?«, fragt der Ökologe. Eigentlich wolle man die Antarktis so erhalten, wie sie heute ist, mit ihren archaischen, einfachen Nahrungsnetzen an Land, statt eine Flora und Fauna fördern, wie sie bereits in Südamerika dominiert.

Für Meerestiere gibt es bei einer weiteren Erwärmung des Antarktischen Ozeans kaum Möglichkeiten, noch weiter südlich zu wandern, denn da stoßen sie überall an die Küsten des Kontinents. Derzeit weichen Pinguine und Krill in die Ausbuchtungen des Weddell- und Rossmeers aus, doch bei weiter steigenden Temperaturen ist auch hier Schluss. Besonders gefährdet sind die hoch angepassten Eisfische, die über keine roten Blutkörperchen verfügen und gegen die Kälte Gefrierschutzproteine bilden, sowie einige Pinguinarten. »Die Adeliepinguine brüten an Land, auf kiesigem Boden, zu Zehntausenden von Paaren. Dass so eine Kolonie umzieht, 100 bis 500 Kilometer weiter südlich, das ist nichts, was von heute auf morgen geschieht. Da müssen sie erst einmal eine neue Stelle finden, wo sie sich etablieren können oder überhaupt erst mal, menschlich gesprochen, auf die Idee kommen, nach Süden zu schwimmen und eine neue Kolonie zu gründen«, so Gutt. Ähnlich verhält es sich bei den Kaiserpinguinen, die auf mehrjähriges Meereis angewiesen sind.

Ein weiteres Problem stellt für die marinen Organismen die zunehmende Versauerung des Südlichen Ozeans dar. Durch die Kälte nimmt er besonders viel Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf, und damit sinkt sein pH-Wert stärker als im globalen Durchschnitt der Meere. Potenziell trifft dies alle Tiere, die im Wasser leben, ganz besonders aber solche mit einer Kalkschale. Bei einem saureren Ambiente müssen sie mehr Energie für deren Aufbau oder Erhaltung aufbringen als gewöhnlich. Dafür brauchen sie mehr Nahrung, denn sie benötigen ebenfalls Energie für Wachstum und Fortpflanzung.

Besonders problematisch ist es, wenn die Population von Schlüsselarten in der Nahrungskette einbricht. »Dann gerät das ganze Ökosystem aus dem Gleichgewicht«, sagt Gutt. In der freien Wassersäule sind das die Flügelschnecken aber auch der jugendliche Krill, der, obwohl er keine Kalkschale besitzt, unter der Versauerung des Meerwassers leidet. Für Pinguine, Robben, Fische und Wale stellt er eine zentrale Nahrungsquelle dar. Ein niedriger pH-Wert schädigt auch das Skelett der antarktischen Korallen. Sie bieten anderen Arten das Substrat am Meeresgrund, an das sie sich heften können und sind deshalb ebenfalls von großer ökologischer Bedeutung.

Nach bisherigem Kenntnisstand gibt es aber durchaus auch Profiteure der Versauerung des Südlichen Ozeans. Dazu gehören vermutlich die Seescheiden. Abgesehen von ihrem Larvenstadium sind sie sesshafte Tiere und ernähren sich von Nährstoffen, die sie aus der freien Wassersäule herausfiltern. Laut Gutt reagieren sie auf Umweltveränderungen besonders empfindlich, mittels einem starken Populationswachstum oder, bei ungünstigen Bedingungen, indem sie absterben.

Unklarer Einfluss auf den Kohlenstoffhaushalt

Großer Forschungsbedarf besteht noch dazu, wie sich größere Algenblüten auf den weltweiten Kohlenstoffhaushalt auswirken. Während ihres Wachstums nehmen sie aus der Atmosphäre Kohlendioxid (CO2) auf. »Aber was passiert damit: Sinken die Algen (nach ihrem Absterben) bis zum Meeresboden, werden sie dort eingearbeitet und bildet sich im Verlauf von 10 oder 50 Millionen Jahren daraus Erdöl? Dann ist das CO2 für lange Zeit weg. Oder aber gast es wenige Monate oder ein, zwei Jahre nach dem Abbau der Algen aus dem Ozean wieder aus und wird an die Atmosphäre abgegeben? Dann ist uns gar nicht geholfen«, erklärt Gutt.

Grundsätzlich nehmen die Polarforscher*innen an, dass das Algenwachstum zunimmt, wenn sich das Meereis zurückzieht und so mehr Licht ins Meerwasser einfällt. Eine ältere Studie prognostiziert anhand einer einfachen Modellrechnung bei einem völligen Verschwinden des Meereises im antarktischen Sommer eine Steigerung des Algenwachstums um 25 Prozent. Auch eine stabile Wasserschichtung wirkt sich diesbezüglich günstig aus, wie weitere Studien belegen. Die Zusammenhänge sind jedoch höchst komplex und noch nicht verstanden, so etwa, warum an der sich schneller erwärmenden Antarktischen Halbinsel bei schwindendem Meereis an einigen Orten ein stärkeres Algenwachstum, an anderen weniger Algen beobachtet wurden.

Ein besonderes Verdienst der Studie sehen sowohl Gutt als auch Karsten darin, dass es den Autor*innen gelungen ist, sich auf zehn Kernbotschaften zu einigen, die die Ergebnisse der untersuchten Studien zusammenfassen und einen Blick in die Zukunft werfen.

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