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Er ist schwanger!
Bilder, die sonst im Kino fehlen: Das US-Filmfestival Sundance fand dieses Jahr zum großen Teil digital statt
Es ist eine sehr unangenehme Situation für Matt, denn ein zufälliger Penis war ganz in der Nähe von seinem ungeborenen Kind, wie er es selbst beschreibt. Nein, es ist nicht so, dass seine schwangere Frau fremdgegangen ist. Er hat nämlich keine Frau. Ein ungeborenes Kind schon, das - nun ja - in der Gebärmutter von Anna heranwächst. Matt ist in seinen 40ern, wollte endlich einfach Vater werden, ohne ewig auf die richtige Frau warten zu müssen. So hat er die 26-jährige Anna kennengelernt, die mit ihm einen Vertrag abschloss, sein Kind - also seine Samenzelle und die Eizelle einer zufälligen Spenderin - als Leihmutter auszutragen.
Dass Anna trotz der Schwangerschaft ihr normales Sexleben beibehalten will, kann Matt ihr zwar nicht verbieten, aber glücklich damit ist er auch nicht. Das ist nur eine der vielen komischen (in beiderlei Sinn) Situationen, die diese zwei Fremden erleben, die nun viel miteinander zu tun haben müssen. Davon handelt der Film »Together Together« (»Zusammen Zusammen«) von der US-amerikanischen Regisseurin Nikole Beckwith, der seine Weltpremiere in der Sektion »US-Spielfilm-Wettbewerb« des diesjährigen Sundance-Festivals feierte. Mit Humor und feiner Beobachtung gelingt es Beckwith, aus alltäglichen Momenten gesellschaftskritische Statements zu machen, ohne dabei plakativ zu werden. Warum bekommt Anna ein »Oooch« (Tonleiter abwärts) als Reaktion, wenn Menschen mitbekommen, dass sie Leihmutter ist, aber Matt dann ein »Oooh!« (Tonleiter aufwärts), wenn klar wird, dass er ein Single-Vater sein möchte, fragt Anna in einer Szene nach. »Together Together« bietet alternative Erzählungen und bricht mit Sehgewohnheiten, zeigt Bilder, an denen nicht nur das US-, sondern auch das Weltkino Mangel hat: Bilder eines Mannes etwa, der, wenn er seinen Mitmenschen von seiner großen Entscheidung berichten möchte, sagt: Er sei schwanger!
Sundance ist reich an solchen Beispielen. Das US-Filmfestival für unabhängige amerikanische und internationale Produktionen, das seit einer Woche läuft und an diesem Mittwoch zu Ende geht, hat vor allem vier Wettbewerbskategorien: US-Spielfilm, US-Dokumentarfilm, Welt-Spielfilm und Welt-Dokumentarfilm. Dieses Jahr konkurrieren 73 Spielfilme und 30 Dokumentationen aus 44 Ländern miteinander. Die Preisverleihung findet am 3. Februar um 18 Uhr (Ortszeit) statt - um zwei Uhr in der Nacht, MEZ.
Besonders bemerkenswert an der 37. Auflage dieses Festivals sind die zahlreichen Geschichten über Frauen, die zum großen Teil auch von Frauen gefilmt wurden. Ein Highlight der Sektion Welt-Dokumentarfilm ist »Writig with Fire« (»Schreiben mit Feuer«) über die einzige Zeitung Indiens, die komplett von Frauen gemacht wird. Das wöchentliche Lokalblatt »Khabar Lahariya« (Nachrichtenwellen) wurde im Jahr 2002 im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh von Dalit-Frauen gegründet. Die Dalits sind eine Gruppe von Menschen, die im seit 1500 v. Chr. herrschenden Kastensystem in Indien als »Unberührbare« bezeichnet und die noch heute am meisten diskriminiert werden. Die indische Regisseurin Rintu Thomas und ihr Co-Regisseur Sushmit Ghosh begleiteten die Chef-Redakteurin Meera Jatav und zwei Reporterinnen in ihren verschiedenen Lebens- und Arbeitsphasen. Die Dokumentation beginnt 2016, zur Zeit der digitalen Transformation der Zeitung. Da lernen einige dieser Frauen erstmals, ein Smartphone zu benutzen. Viele wechseln daraufhin zu Online-Reportagen. Ein Youtube-Kanal wird erstellt, und allmählich erreichen ihre Videos mehr als zehn Millionen Klicks. Auch internationale Aufmerksamkeit ist ihnen damit sicher.
Genauso interessant ist die persönliche Entwicklung der Zeitungsmacherinnen: Die eine Reporterin etwa, die als kleines Kind in einer illegalen Mine als Steinesammlerin gearbeitet hat, berichtet nun über die Mine und die beteiligte Mafia. Dabei werden diese Frauen nicht als Heldinnen dargestellt, auch nicht - besonders für ausländische Blicke - zu Exotinnen gemacht. Vielmehr werden ihre alltäglichen Herausforderungen thematisiert. In einer Online-Podiumsdiskussion nach der Premiere auf dem Sundance-Festival betonten die Regisseur*innen, dass sie einen Film drehen wollten, der sowohl für Indien relevant ist, als auch als ein internationales Werk verstanden wird, das sich in interdisziplinären Bereichen wie Gender Studies, Demokratie, Digitalisierung und Diskriminierung bewegt.
Laut Festivalstatistik beträgt die Frauenbeteiligung dieses Jahr in den drei Wettbewerbskategorien US-Spielfilm, Welt-Dokumentarfilm und Welt-Spielfilm 50 Prozent. In der vierten Sektion, US-Dokumentarfilm, sogar 60 Prozent. Ein Vergleich mit den Internationalen Filmfestspielen Berlin kann hier interessant sein. Im Wettbewerb der Berlinale 2020 waren Frauen zu etwa 30 Prozent an der Produktion beteiligt. Sundance begnügt sich aber nicht nur mit Frauenquoten, sondern gibt auch die genaue Zahl der Beteiligung von Menschen of Color, mit Beeinträchtigung und Menschen, die sich als LGBTQ identifizieren. Beispielsweise ist der Anteil der Filmemacher*innen of Color an dem diesjährigen Festival wie folgt: US-Spielfilm 40 Prozent, US-Dokumentarfilm 80 Prozent, Welt-Spielfilm 50 Prozent Welt-Dokumentarfilm 30 Prozent.
Ob die Beachtung solcher Quoten die Qualität des Festivals beeinflusst? Das hohe Niveau, die Kreativität und die Vielfalt der Produktionen zeigen, dass es sich hier nicht um sogenannte Quotenfilme handelt. Eine der vielfältigsten und hochinteressanten Sektionen des diesjährigen Sundance ist das Programm Indie-Serien mit vier Projekten. In der argentinischen Serie »4 Feet High« von den Regisseurinnen María Belén Poncio und Rosario Perazolo Masjoan besetzen Teenager*innen ihre eigene Schule, um auf ihre immer wieder abgelehnte Forderung aufmerksam zu machen, sexuelle Aufklärung als Schulfach zu bekommen. (Vergessen Sie die Netflix-Serie »Sex Education«, besser noch die komplette Netflix-Welt!) Sie lassen sich nicht einfach mit irgendeinem Kurs abspeisen, sondern wollen einen inklusiven und gendergerechten Sexualunterricht, der nicht von »Dinosauriern« - wie sie es selber beschreiben - vorgegeben wird. Die Geschichte der 17-jährigen Juana rückt dabei in den Fokus der Serie: Sie sitzt im Rollstuhl und will ihre Sexualität erkunden. Auch hier entstehen Bilder, die sonst im Kino fehlen. Die Serie ist wie ihre Protagonist*innen überschäumend und kritisch, eine barrierefreie Toilette wird zum politischen Ort des Widerstands und der Solidarität und die Schüler*innen werden selbst Teil der feministischen Demonstrationen in den Straßen Lateinamerikas.
Auch die Form des Filmfestivals ist dieses Jahr trotz der pandemiebedingten Einschränkungen kreativ: Sundance findet zum ersten Mal zum großen Teil digital statt, aber teilweise und vor allem am Hauptaustragungsort, der US-Stadt Park City in Utah, auch physisch. Für die Online-Premieren musste man einen digitalen Sitzplatz reservieren, denn die Anzahl ist beschränkt. Und wie auf den üblichen Festivals kann man nicht gleichzeitig an mehreren teilnehmen. Sobald man einen Film begonnen hat, hat man vier Stunden Zeit, ihn zu Ende zu sehen, Pausen, Vor- und Rückspulen inklusive. 15 Minuten vor der Online-Premiere kann man ein interaktives Wartezimmer betreten, wo sich Menschen im Chat austauschen, während ein »Download-Balken« in Form von Kinositzen geladen wird, bis alle Plätze »belegt« sind. Nach der Premiere gibt es ein Live-Gespräch mit der Filmcrew. Danach noch digitale Filmpartys, an denen man als Avatar teilnimmt. Am besten mit einem VR-Headset. Der Partybereich sieht wie eine Sky-Bar aus, wo Menschen mit ihren Avataren durch den virtuellen Raum laufen, sich vor Eingängen oder Info-Tafeln kurz aufhalten, dann verschiedene Partyräume oder Chats betreten, wo es die Möglichkeit gibt, Mikrofon und Kamera zu aktivieren und sich wirklich live mit anderen Teilnehmer*innen zu unterhalten, darunter auch den Regisseur*innen. Doch man kann auch, nachdem man in einige Räume kurz einen Blick hineingeworfen und vielleicht zwei, drei Chats betreten hat, um nur kurz die Gesprächsthemen der anderen mitzubekommen, sich dann einfach mit seinem Avatar auf eine virtuelle Couch setzen und nichts machen, außer das Geschehnis zu beobachten. Genauso unsozial, wie man auf einer eigentlichen Party sein könnte.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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