Testen, Pflegeheime schützen, Taxigutscheine, Einkaufsschichten

Mit dem »Tübinger Modell« konnten die Corona-Zahlen in der schwäbischen Stadt während des zweiten Lockdowns relativ niedrig gehalten werden

  • Tilman Baur, Tübingen
  • Lesedauer: 4 Min.

Großer Bahnhof vor dem Altersheim: In der vergangenen Woche trafen Soldaten des Jägerbataillons 292 der deutsch-französischen Brigade am Zamenhof ein, einer kommunalen Pflegeeinrichtung in Stuttgart. Ihre Mission: dem unterbesetzten Personal bei der Durchführung von Corona-Schnelltests zur Hand zu gehen. Gemäß einer neuen Landesverordnung müssen diese nämlich nun direkt von den Einrichtungen selbst angeboten werden. Im ganzen Land unterbrachen deshalb Hunderte Uniformierte ihre Schießübungen, um Seniorinnen und Senioren Wattestäbchen in die Nasenlöcher zu schieben.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) musste sich ob dieser mit großem Presse-Tamtam einhergehenden Aktion bestätigt fühlen. Die Alten konsequent zu schützen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen - auf diese Idee war der sonst gerne mit provozierenden Äußerungen für nationale Schlagzeilen sorgende Provinzpolitiker schon vor langer Zeit gekommen.

Eigentlich liegt dieser Ansatz auch nahe. Denn zu den frühesten Erkenntnissen der Pandemie zählte, dass das Virus besonders alte Menschen gefährdet. So zeigen aktuelle Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI), dass knapp 90 Prozent aller am Virus verstorbenen Menschen zum Todeszeitpunkt 69 Jahre alt oder älter waren. Die Tübinger Rathausspitze zog aus dieser Erkenntnis aber andere Schlüsse als die Bundespolitik und viele Landesregierungen.

Bereits im Sommer forderte man den besonderen Schutz der neun Alten- und Pflegeheime der Stadt, ohne dafür zunächst aber eine Finanzierung gewährt zu bekommen. Der Gemeinderat nahm das Heft daraufhin selbst in die Hand. Er stellte 250 000 Euro bereit, um zusammen mit dem Deutschen Roten Kreuz und einem örtlichen Labor PCR-Tests für das gesamte Personal der kommunalen Einrichtungen zur Verfügung zu haben. Regelmäßige Schnelltests kamen ab Oktober hinzu, die auch dann durchgeführt wurden, wenn es keinen konkreten Verdachtsfall gab.

Die Pandemiebeauftragte des Landkreises, die Notärztin und DRK-Kreisvorsitzende Lisa Federle, fuhr bereits während der ersten Corona-Welle mit einem Testmobil von Heim zu Heim, um Schnelltests anzubieten. Dieses engmaschige System zeigte schnell Erfolge. Corona-Ausbrüche in Pflegeheimen hat es im vergangenen Jahr zwar auch in Tübingen gegeben, drei, um genau zu sein. Wie Palmer betonte, konnten diese aber früh gestoppt und auf einen kleinen Personenkreis beschränkt werden.

Die Stadt ergriff weitere Maßnahmen zum Schutz der Alten. Sie verschickte FFP2-Masken an über 65-jährige, bot Senioren vergünstigte Taxifahrten an, um Busfahrten zu vermeiden. Dazu kam der »Tübinger Appell«, in dem die Verwaltung dazu aufrief, soziale Kontakte zu vermeiden. Junge Leute rief man dazu auf, vormittags nicht einkaufen zu gehen, sondern den Älteren diesen Tagesabschnitt zu überlassen. Die Fallzahlen über den gesamten Zeitraum des zweiten Lockdowns unterstreichen den Erfolg des »Tübinger Modells«. Aktuell liegt die Sieben-Tages-Inzidenz im Landkreis bei 30. Sie ist etwa halb so hoch wie in Baden-Württemberg insgesamt. Und das Ländle steht bundesweit relativ gut da - in Deutschland insgesamt liegt der Wert bei 73.

Wer sich mit Palmers Äußerungen im Verlauf der Pandemie auseinandersetzt, stellt fest, dass der konsequente Schutz der Hochrisikogruppe der Alten für ihn nie Selbstzweck war, sondern die Voraussetzung für eine baldige Rückkehr zur Normalität. Die Kollateralschäden eines dauerhaften Lockdowns seien höher als der Verlust einiger alter Menschen, hatte Palmer im Frühjahr 2020 in einem TV-Interview gesagt und sich einmal mehr zum Buhmann der Nation gemacht.

Auch heute macht sich Palmer entgegen der Mehrheitsmeinung für eine frühzeitige Öffnung von Kitas und Grundschulen stark. »Die Bundesregierung hat in den Ministerpräsidenten-Konferenzen ganz besonders auf die Schließung von Kitas und Schulen Wert gelegt. Die Länder sehen das erfreulicherweise nicht alle so«, sagte er im Interview mit »Focus Online«. »Die Lasten, die Familien tragen, sind schlicht zu groß, vor allem wenn man bedenkt, dass Kinder durch eine Infektion fast gar nicht gefährdet sind. Was nützt es den Menschen in Alten- und Pflegeheimen, wenn Kitas und Schulen geschlossen sind?«

Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) drängt ebenfalls seit Wochen auf eine frühere Öffnung, konnte Ministerpräsident Winfried Kretschmann bislang aber nicht dazu bewegen, von seiner starren Haltung abzuweichen. Er hatte mit Blick auf sinkende Umfragewerte - Baden-Württemberg wählt am 14. März seinen Landtag neu - zwischenzeitlich selbst eine frühere Öffnung erwogen und mit Blick auf kleine Kinder gesagt, sie bräuchten andere Kinder »wie der Fisch das Wasser«. Eine Woche später blies er zum Rückzug, nachdem eine Virus-Mutation in einer Freiburger Kita aufgetaucht war.

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