Sie ist wieder da

Im neuen Roman von Axel Ruoff geht es um Rosa Luxemburg, heute als Livestream im Berliner Brecht-Haus

  • Uwe Schütte
  • Lesedauer: 4 Min.

Irrblöcke, so nennt man mächtige Gesteinskörper, die in der Eiszeit von den Bewegungen der Gletscher irgendwo, fernab der Gebirge, in der Landschaft deponiert wurden. Solch ein riesiger Findling ruht rätselhaft im Zentrum von Axel Ruoffs Roman »Irrblock«, denn dieser mächtige Gesteinskörper ist kein gewöhnlicher Granitblock. Vielmehr erscheint er als über und über mit merkwürdigen Flechten bewachsen, die sich aus unerklärlichen Gründen aus dem Gestein zu nähren scheinen. Kurzum: Der Irrblock lebt. Oder ist das lediglich eine Chimäre? Nur eine Projektion der verstörten Besucher, die sich nach dem Besuch eines ominösen Ostberliner »Kopf-Museums« in den dunklen Schuppen verirren, wo er lagert?

Die literarische Raffinesse des Romans liegt darin, dass des Lesers Ungewissheit über den Irrblock umso größer wird, je ausführlicher, je monomanischer um Genauigkeit bemüht das zwischen anorganisch und organisch oszillierende Hybridgebilde von Ruoff beschrieben wird. Verbunden mit dem rätselhaften ontologischen Status des Irrblocks ist der Umstand, dass dieser beständig seine Form verändert, und mal für ein blutiges Götzenbild, dann für ein Revolutionsdenkmal gehalten wird. Es ist als erstes ein Besucher des Museums, der hinter dem geil wildwuchernden Flechtenbewuchs glaubt, den Kopf von Rosa Luxemburg zu erkennen. Steckt hinter dem Irrblock also die bizarre Wiederkehr eines von einem Denkmal der Sozialistin stammenden Kopfes? Oder gibt es noch abenteuerlichere Erklärungen für die physiognomische Ähnlichkeit, zumal die ermordete Spartakistin eine immer stärkere Präsenz im Buch von Ruoff gewinnt.

Glaubt man zunächst noch, dass der Hilfsgärtner Hermann Troll - dessen Sisyphusarbeit die Einhegung des wissenschaftlich nicht zu erklärenden, beständig wechselnden Flechtenwuchses ist - der Protagonist des Romans sei, so entpuppt sich Rosa Luxemburg immer mehr als eigentliche Hauptfigur.

Sie ist wieder da. Und zwar in mannigfaltigen Formen, von Ruoff mit meisterlicher Subtilität Schritt für Schritt freigelegt. Eine spektrale Präsenz gewinnt Luxemburg insbesondere in Gestalt der medial veranlagten Mutter von Troll: Diese nämlich beginnt plötzlich in der enigmatischen Gestalt der Jägerin Gracchus zu sprechen, die - wie ihr gleichnamiger Geistesbruder aus einem fragmentarischen Erzähltext Kafkas - untot an der Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits verharrt.

Man merkt: Axel Ruoff ist es nicht, wie der Mehrheit der Gegenwartsautoren, um ein realistisch verankertes Erzählen zu tun. Seine Expertise liegt darin, faszinierende Erzählwelten zu erschaffen, die zwar erkennbar im Hier und Jetzt verankert sind, dabei aber Geschichten zu erzählen wissen, die allegorisch ausgreifen und sich auf die Erkundung der Zwischenräume zwischen Fakt und Fiktion verstehen. Das galt bereits für sein 2015 erschienenes Debüt »Apatit«, ein wundersamer Bericht darüber, wie in einer lebensfeindlichen Wüstengegend ein asiatisch-deutsches Paar in einem jenseits der Zeit liegenden Hotel eine von Gewalterfahrungen gezeichnete Liebesgeschichte erlebt, an deren Ende die Versteinerung der Frau steht.

Irrblock nun darf durchaus als Revers dieser Petrifikation stehen, wird doch hier ein Stein auf unerklärliche Weise lebendig, um weibliche Gestalt anzunehmen. Indem Ruoff in seinem neuen Roman die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit der eigenen Realität der Literatur verschränkt, gelingt es ihm, einen originellen Prosatext zu liefern, wie man ihn in einer solchen Vielschichtigkeit nur selten noch zu lesen bekommt. Bestechend und ergreifend zu lesen, dabei strikt den neuesten Erkenntnissen über ihre Ermordung gehorchend, wie die (un)tote Revolutionärin in der Sprachmaske der Jägerin Gracchus davon berichtet, wie sie verhaftet, gefoltert und ermordet wurde, um dann im Wasser des Landwehrkanals treibend, gleich der literarischen Gestalt Kafkas, darüber nachzusinnen, warum sie niemals erlöst wird, da sich ihre politische Utopie nicht erfüllt.

Schrittweise nur schält sich in Ruoffs Roman heraus, dass das bizarre Kopf-Museum, in dem der Irrblock lagert, im ehemaligen, im Roman nur teilweise abgerissenen Frauengefängnis Barnimstraße im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain untergebracht ist. Luxemburg war dort 1907 und 1915/16 inhaftiert; wie viele andere Gegnerinnen des Nationalsozialismus hätte sie dort vermutlich auf ihre Hinrichtung in Plötzensee gewartet, wäre sie nicht vorher schon von der Reaktion ermordet worden. In der Frauenhaftanstalt wurde 1950 ein Gedenkraum mit einer Büste von ihr eingerichtet. Zuvor unveröffentlichte Fotografien davon sind im Roman zu sehen. Die Kopfbüste aber verschwand beim Abriss 1974 unter ungeklärten Umständen. Handelt es sich beim enigmatischen Irrblock also um die unheimliche Wiederkehr des Hauptes der Revolutionärin? Und wie verhält sich dies wiederum zum Umstand, dass das Kopf-Museum mit seinen präparierten Menschenschädeln ein veritables Gruselkabinett der Kolonialgeschichte darstellt? Es sind nicht die einzigen Fragen, die Axel Ruoffs fulminantes Erzählwerk seinen Lesern als reizvolle Denkrätsel präsentiert. Ein Buch, das seinesgleichen sucht in der Gegenwartsliteratur.

Axel Ruoff: Irrblock. Bibliothek der Provinz, 374 S., br. , 28 €. Lesung an diesem Dienstag im Berliner Brecht-Haus um 20 Uhr im Livestream: https://lfbrecht.de/event/axel-ruoff-irrblock

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