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Von Bio bis zum großen Ganzen
Das Kollektiv »Keine Schule ohne Feminismus« stellt Forderungen an die Bildungspolitik
Es war früh am Morgen, kühl und regnerisch, als die Gruppe von fünf jungen Frauen Ende Januar ins Berliner Regierungsviertel fuhr. Direkt vor dem Ministerium für Bildung und Forschung befestigten sie ihre Banner, die sie am Wochenende zuvor gemalt hatten, an der Balustrade am Spreeufer. »Keine Schule ohne Feminismus« stand darauf in großen schwarzen und lila Lettern. Fotos zeigen die Mädchen, wie sie mit Abstand und Mundschutz hinter dem Banner stehen, jeweils eine Faust kämpferisch in die Luft gestreckt. Auf ein kleineres Poster hatten sie Forderungen geschrieben, die sie ans Bildungsministerium richten, darunter »gendergerechte Sprache in der Schule« und »Behandeln von mehr Texten von und über Frauen«.
Noch am selben Tag wurden die Banner wieder abgehängt, berichtet Laura. Die 16-Jährige ist Teil des Kollektivs »Keine Schule ohne Feminismus«, das sich Ende 2020 an einem Schöneberger Gymnasium gegründet hat. Den Schüler*innen gehe es weniger um individuelle Erfahrungen als um den alltäglichen und strukturellen Sexismus, den sie in der Institution Schule wahrnehmen, erzählen Lili, Laura und Jara, drei Mitglieder des Kollektivs, im Videotelefongespräch.
Das Kollektiv, dessen Kern aus etwa zehn Elft- und Zwölftklässler*innen besteht - größtenteils, aber nicht ausschließlich Frauen - hat unterschiedliche Ebenen im Blick. Zum einen geht es um konkrete Vorfälle von Sexismus und sexueller Gewalt an Schulen. Einmal habe ein Schüler gesagt, er würde »einen Steifen« bekommen, als eine Schülerin an der Tafel stand, erzählt Laura und betont: »Solche Situationen sind kein Einzelfall.« Einmal, als eine Schülerin einen Lolli im Mund hatte, hätten Mitschüler zueinander auf Englisch gesagt, »sie solle doch lieber ihren Schwanz lutschen«.
Lili, Laura und Jara äußern ihre Meinung zu solchen Vorfällen auch öffentlich. Aber sie wissen: Das tun nicht alle. »Man kann nicht erwarten, dass jede die Kraft hat, etwas dagegen zu sagen«, erklärt Lili. Deshalb hat das Kollektiv anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November einen E-Mail-Verteiler eingerichtet. Die Mitglieder sammelten anonyme Geschichten und Erlebnisse, die sie ausdruckten und an eine Tafel klebten - unter der Überschrift »Wall of Shame« (Wand der Schande).
Für die drastische Wortwahl wurden sie kritisiert, erzählt Lili. »Aber das war bewusst vorwurfsvoll gewählt. Wir waren wütend«, sagt die 15-Jährige. Unter den Zitaten waren auch Sprüche von Lehrkräften wie »Ich brauche mal eben fünf starke Jungs«. Manche Lehrer*innen unterstützten ihre Aktionen, andere fühlten sich dadurch angegriffen, weil sie nicht verstehen, was daran sexistisch sein soll, erzählt Jara. Das zeigt, wie viel Arbeit die Aktivist*innen noch vor sich haben. Sie wollen ernst genommen und mitgedacht werden - auch, wenn es nur darum geht, ein paar Tische zu tragen. »Wir fühlen uns nicht repräsentiert, wenn die Lehrer*innen nur von Schülern sprechen«, sagt Jara.
Nicht nur im schulischen Alltag, auch im Lehrplan fühlen sich die Schüler*innen als FLINTA* (Frauen, Lesben, Intersexuelle, Nicht-Binäre, trans Personen) häufig nicht mitgedacht. Die zweite Ebene, auf der sie sich engagieren, betrifft deshalb die Curricula und Schulstrukturen. »Die Schule ist ein Ort, an dem wir sehr stark geprägt werden«, sagt Lili. Deshalb sei es so wichtig, dass an dieser Stelle grundlegende Änderungen angeschoben würden.
Ob Texte, Bücher oder Theorien: Das meiste, was im Unterricht behandelt werde, sei von cis Männern verfasst worden, erzählen die Schülerinnen. »Die Geschichte, die wir zu hören bekommen, wurde von Männern gemacht«, sagt Jara. Das Argument, dass es keine Frauen gebe, die »etwas geleistet« haben, lassen sie nicht gelten. Dann müssten die Lehrkräfte sich bei der Suche nach anderen Beispielen mehr Mühe geben, fordern sie.
Wichtig sind dem Kollektiv auch Veränderungen im Biologieunterricht. »FLINTA* werden kaum thematisiert«, sagt Jara. Gleichgeschlechtliche Sexualität oder nicht-binäre Identitäten würden nicht behandelt. Die Unterrichtshalte seien extrem heteronormativ gestaltet, kritisiert Lili. Um die Lust von Frauen gehe es nicht - selbst ihre Geschlechtsorgane würden nicht benannt. Der Unterschied zwischen Vulva und Vagina? Fehlanzeige. »Ich bin in der elften Klasse und habe erst in diesem Jahr gelernt, wie mein Geschlechtsorgan heißt. Aber nicht in der Schule. Alles, was wir wissen wollen, bringen wir uns selbst bei«, berichtet Jara. Das letzte Mal hätte sie in der fünften Klasse Sexualkundeunterricht gehabt - was auch daran liege, dass das Thema immer am Ende des Schuljahres eingeplant sei und dann hinten runterfalle.
In einem offenen Brief an Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), den sie zum Internationalen Frauentag am 8. März veröffentlichen wollen, formulieren die Aktivist*innen ihre Anliegen. Unter anderem fordern sie eine umfassende Ausbildung zu geschlechtergerechtem Lehren und Lernen im Lehramtsstudium. »Wir wollen über die Geschichte der FLINTA* und über die der Kämpfe für FLINTA*-Rechte lernen. Wir wollen Vorbilder entwickeln können, die nicht weiß und cis-männlich sind. Wir wollen wissen, wie und warum das Patriarchat entstanden ist«, heißt es in dem Schreiben.
Wichtig wären unabhängige Stellen, an die sich Betroffene von sexueller Gewalt an Schulen wenden können, sagen Laura, Lili und Jara. »Die Erfahrung zeigt: So, wie es bisher läuft, funktioniert es nicht gut«, betont Laura.
Über ihren Instagram-Kanal »keineschuleohnefeminismus« haben die Aktivist*innen ein Netzwerk von Sympathisant*innen aufgebaut, das weit über die Grenzen der Stadt reicht. Über diesen Kanal leisten sie Aufklärungsarbeit und erklären Begriffe wie »Patriarchat«, »Femizid« oder »Gender Pay Gap«. Gerade sind sie dabei, sich mit Aktivist*innen anderer Schulen zu vernetzen, um sich gemeinsam für mehr Feminismus an Schulen zu engagieren. Dabei fühlen sie sich dem intersektionalen Feminismus zugehörig, setzen sich also auch gegen andere Formen der Diskriminierung und Unterdrückung ein - beispielsweise Rassismus, Antisemitismus oder antimuslimischen Rassismus. »Wir treten nicht nur für Frauenrechte, sondern für Gleichberechtigung im Großen und Ganzen ein«, betont Jara. Neben der Veröffentlichung ihres offenen Briefes planen sie für den 8. März, Banner mit ihren Forderungen an verschiedenen Orten in Berlin aufzuhängen.
Mehr Informationen: www.keineschuleohnefeminismus.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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