Aus dem Käfig entwichen
Dierk Hirschel über den zerstörerischen Kapitalismus
Er hat ein Buch über den gegenwärtigen Kapitalismus geschrieben. Und dies voller Unruhe. Beunruhigt darüber, dass geglaubt wird, dieser Kapitalismus sei im Grunde noch der alte - jener, den Gewerkschaften und Sozialdemokraten nach dem Zweiten Weltkrieg zu zähmen vermochten. Die Dompteure des Kapitals bauten den Sozialstaat aus. Es gelang ihnen, die Wirtschaft zu demokratisieren, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Im Ergebnis stiegen die Arbeitslöhne, nominal wie auch real, ebenso die Renten. Wohnungen wurden bezahlbar. Wirtschaftswissenschaftler sprachen vom »Rheinischen Kapitalismus«, der sich durch Flächentarifverträge, Mitbestimmung und Qualitätsproduktion, durch kürzere Arbeitszeiten und ein gutes Ausbildungssystem auszeichnete.
Doch diese Zeiten, die auch für viele Ostdeutsche die Verhältnisse in der Bundesrepublik attraktiv erscheinen ließen, sind seit drei Jahrzehnten Geschichte. Wie es so weit kommen konnte, offenbart Dierk Hirschel, Chefökonom der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft und Mitglied der SPD-Grundwertekommission, in seinem neuen Buch: »Wirtschaftselite und neoliberale Politiker führten seit den 1980er Jahren einen Klassenkampf von oben. Sie ließen den Raubtierkapitalismus aus seinem Käfig entweichen.«
Was da im Einzelnen geschah, wie die Kapitalmärkte entfesselt, öffentliche Güter privatisiert, Niedriglöhne und prekäre Arbeitsverhältnisse gefördert, Sozialleistungen gekürzt und staatliche Maßnahmen zur Förderung des privaten Reichtums durchgesetzt wurden - davon ist im ersten Teil des Buches die Rede. Hirschel macht hierfür maßgeblich die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder verantwortlich. Mit dessen »Agenda«, welche die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung durch Senkung der Unternehmenssteuern bringen sollte, rechnet der Autor scharf im zweiten Teil seines Buches ab. Er beschreibt die Folgen für die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten. Vielsagend sind bereits die Kapitelüberschriften: »Der Niedergang der Sozialdemokratie«, »Tschüss Volkspartei« und »Die Partei der Arbeit schafft sich ab«. Hirschel zitiert den Journalisten Heribert Prantl: »Für viele alte SPD-Wähler und viele SPD-Sympathisanten war die Agenda 2010 eine Austrittserklärung der SPD aus ihrer eigenen Geschichte als Partei der kleinen Leute«.
Die Schwächung der SPD habe wesentlich zum Aufstieg der neuen Rechten beigetragen, so Hirschel. Die AfD würde überproportional von Arbeitnehmern gewählt. Untersuchungen ergaben, dass 2017 an die 15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder den Rechtsextremisten ihre Stimme gaben. »Hierbei handelt es sich überwiegend um abhängig Beschäftigte aus Industrie- und Handwerksbetrieben.«
Im dritten Teil bemüht sich der Autor um eine Antwort auf die Frage, wie diese Situation geändert werden kann, eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes wieder erreicht, der Sozialstaat zurückerobert sowie Gewerkschaften und linke Parteien verlorene Posten zurückgewinnen könnten. Die Ausführungen hierzu weisen programmatische Züge auf. Hirschel appelliert an jene Kräfte in der Gesellschaft, die eine soziale und ökologisch gerechte Gesellschaft fordern. Er ist optimistisch, dass sie Erfolg haben können. Seine Zuversicht basiert auf einer durchaus realen Einschätzung der gegenwärtigen Situation: Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbände, soziale Bewegungen, die Grünen und Die Linke eint mehr als sie trennt. Er fordert sie zu konstruktivem Dialog und zur gemeinsamen Ausarbeitung von Reformprojekten für eine sozial-ökologische Transformation auf. Damit wird Hirschel auf viel Zustimmung treffen, wenn auch manche seiner Formulierungen etwas plakativ wirken und er manche Differenzen zwischen linken Bewegungen und Parteien geflissentlich übersieht. Seine Argumentation von grundsätzlich linken Position aus, seine klare Schilderung von Klassenauseinandersetzungen in der Bundesrepublik, dürften gerade auch für ostdeutsche Leser sehr interessant sein, die den neuen »Raubtierkapitalismus« nach 1990 als erste leibhaftig erlitten.
Dierk Hirschel: Das Gift der Ungleichheit: Wie wir die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus schützen können. J. H. W. Dietz, 256 S., br., 22 €.
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