Der Schuster als Künstler

Kristin Ross reflektiert die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 73. Tag der Oktoberrevolution, so heißt es, habe Lenin einen Freudentanz aufgeführt. Der Grund: Die Pariser Kommune - für Lenin ein Vorbild - hatte nur 72 Tage gedauert, vom 18. März 1871 bis zu ihrer blutigen Niederschlagung am 28. Mai. Inzwischen ist dieses Ur-Modell einer Räterepublik, die 1919 in München ihren Nachfolger fand, unverdient in Vergessenheit geraten. Vielleicht vermag das 150-jährige Jubiläum daran etwas zu ändern?

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Kristin Ross: Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune.
A. d. Engl. v. Felix Kurz. Matthes & Seitz, 203 S., geb., 20 €. •

»Luxus für alle« von Kristin Ross, Professorin für Vergleichende Literaturgeschichte in New York, widmet sich der »politischen Gedankenwelt« der Kommunarden. Denn hier finden sich Grundfragen jeder sozialen Bewegung auf engstem Raum durchgespielt. Marx, der das Kommune-Experiment als übereilt abgelehnt hatte, studierte sie dennoch genau. Welche Antworten gab sie auf die Fragen nach dem Verhältnis von Diktatur und Demokratie, nach der Autonomie von Volksvertretung, nach Volksbewaffnung, Trennung von Staat und Kirche, nach der Emanzipation der Frau? Musste der Versuch, eine Stadt, getrennt vom Land, nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten, nicht zwangsläufig scheitern?

Die Kommune konnte nur im Schatten des verlorenen Krieges von 1870 gegen Deutschland entstehen. Die Lasten des Krieges wurden von der Thiers-Regierung vor allem dem einfachen Volk aufgeladen. Die französische Armee war geschlagen und Paris von deutschen Truppen umstellt. So entstand ein Machtvakuum in der Stadt - das zornige Volk bewaffnete sich. Eines der ersten Dekrete des Zentralkomitees (!) der Kommunarden betrifft den rückwirkenden Erlass fälliger Mieten, die von der Bevölkerung nicht mehr bezahlt werden konnten, auch die Rückgabe von gepfändetem Eigentum sowie den Erlass des Verbotes von Nachtarbeit für Bäckergesellen - man ist dicht dran an den Problemen des Volkes. Soziologisch betrachtet besteht dieses Volk weniger aus Proletariern als aus kleinen Handwerkern und diversen Alltagskünstlern. Einer der führenden Kommunarden etwa lebte vom Herstellen von Kunstblumen.

Kristin Ross schlägt nun im Vortragsstil, in dem das Buch gehalten ist, einen weiten Bogen zu den geistigen Einflüssen und habituellen Besonderheiten der Akteure der Kommune. Ein revolutionärer Schuster etwa besteht darauf, dass es eine Kunst sei, einen guten Schuh herzustellen. An solchen Beispielen wird deutlich, dass hier der Fabrikarbeiter eine untergeordnete Rolle spielt, sich das Bewusstsein der Kommunarden, ihre Vorstellung von Sozialismus aus anderen Quellen speist. Der Reichtum der Gesellschaft soll gerecht verteilt werden, gewiss, aber gibt es dafür Vorbilder? Der Kommune gehen, wie bereits bei der 1789er Revolution, zahlreiche Debattierklubs in der Stadt voraus. Die Kommunarden schleifen die Vendome-Säule, das Symbol für Napoleons siegreiche Feldzüge.

Erstaunlich stark ist der russische Einfluss, wie Kristin Ross minutiös aufzeigt. Es ist nicht nur der Anarchist Kropotkin, es sind auch Tschernyschewski und die Volkstümler (Narodniki), mit denen sich auch Marx zu dieser Zeit intensiv befasste. Über Marx’ Kommune-Rezeption lesen wir: »Was das ›arbeitende Dasein‹ der Kommune in seinen Augen erreicht hatte, war die praktische Auflösung des Warenfetischismus und die Herstellung von dessen Gegenteil, von sozialen Verhältnissen einer ›freien assoziierten Arbeit‹.«

Unverständlicherweise ersetzt Felix Kurz, der Übersetzer, die seit 150 Jahren eingeführte Vokabel der Bewegung »Volkstümler« nun durch »Populisten«, was ganz falsche Assoziationen weckt. Die Volkstümler, die gegen die Leibeigenschaft der Bauern kämpften (die 1861 aufgehoben wird), haben weitreichende soziale Ideen von Gleichheit und Solidarität, die auf der bäuerlichen Dorfgemeinschaft (der Obschtschina) basiert. Die starke, bis ins 20. Jahrhundert andauernde Wirkung der Sozialrevolutionäre hat hier ihre Wurzel - wie offenbar auch die Pariser Kommune.

Schade ist, dass die Autorin, die sich so intensiv den geistigen Einflussräumen widmet, dem realen Ablauf der Kommune - der durchaus erinnernswert scheint - keinen Raum in ihren Betrachtungen gibt. Dabei wäre gerade das im überschaubaren Paris möglich und für die Diskussion von politischer Aktion in Bezug auf die Umlauf befindlichen Theorien interessant gewesen. Die Kommune ist ein revolutionäres Experiment, das viele studierten. Marx entwickelte daran seine Vorstellung einer zukünftigen Dominanz von Gebrauchswert- über die Tauschwertproduktion. Die Trennung von Luxusproduktion für die Reichen und schlechter Massenware fürs Volk gilt es aufzuheben, dem Prinzip der Kommune folgend: »Luxus für alle!« Denn im Grunde ist jeder Arbeiter ein Künstler wie jeder Künstler ein Arbeiter. Die Tragik der Kommune besteht darin, dass sie sich als universelle »Weltrepublik« verstand, aber nicht über die Stadtgrenzen von Paris hinausgelangte.

In der sogenannten Blutwoche zerschlugen französische Truppen die Kommune; Bismarck hatte den Ring der deutschen Truppen um Paris für diesen Vergeltungsschlag geöffnet. Nach einem heftigen Barrikadenkampf und dem Brand zahlreicher offizieller Gebäude der Stadt wurden etwa 20 000 Kommunarden exekutiert, die letzten 147 am 28. Mai 1871 auf dem Friedhof Père Lachaise. Weitere 10 000 kamen ins Gefängnis oder wurden verbannt. Aber das Beispiel der ersten sozialistischen Revolution war in der Welt.

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