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Erschreckende Prophetie
Der Roman des Deutschen: Heinrich Manns »Der Untertan« in einer großen Jubiläumsausgabe
Seit 1906 machte er sich Notizen, hielt Phrasen und Worthülsen fest, sammelte martialische Zitate, Wirtshaussprüche und Meldungen über Streiks und Wahlkämpfe. »Der Roman des Deutschen müsste geschrieben werden«, meinte Heinrich Mann am Silvestertag 1907 im Brief an René Schickele. »Die Zeit ist überreif für ihn.«
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Heinrich Mann: Der Untertan. Große Neuausgabe,
hg. v. Ariane Martin. S. Fischer, 638 S., geb., 48 €. •
Da standen die ersten Entwürfe schon auf dem Papier. Anfangs hatte er an einen Roman über den Kaiser gedacht, aber dann hatte er in einem Berliner Café Unter den Linden erlebt, wie das bürgerliche Publikum plötzlich aufgeregt an die breite Fensterfront stürzte, weil draußen Wilhelm II. vorbeiritt. Das neue Buch, entschied er nun, sollte von des Kaisers Untertan handeln. Sein Held würde ein Papierfabrikant sein, der bloß noch patriotische Ansichtskarten und Schlachtenbilder mit dem Porträt des Monarchen unter die Leute bringt, und sein Wirkungsfeld ein Spiegel deutscher Verhältnisse.
Sonst hatte sich Heinrich Mann mit einem Roman nie lange aufgehalten. Diesmal nahm er sich, mit so »großer Last auf dem Buckel«, Zeit. Er brauchte sechs Jahre, dann war er, wie er bekannte, reif für den »Untertan«. Ein großes, schonungsloses Werk sollte es werden, das satirisch zugespitzte Gegenstück zu seinem Roman »Die kleine Stadt«, wo die Bewohner den Segen von Demokratie und Güte erleben. Hier, im »Untertan«, sind Demokratie und Güte restlos zerstört. Hier herrscht der skrupellose, schneidig national gesinnte Unternehmer Diederich Heßling, ein Ausbund an kriecherischer Unterwürfigkeit, das sentimentale Scheusal, das die Macht anbetet und brutal über andere herrscht, ob Frau oder Untergebene.
Ab 1. Januar 1914 erschien der Roman sieben Monate lang in der Münchner Zeitschrift »Zeit im Bild«; bis der Kriegsausbruch den Fortsetzungsabdruck stoppte, weil gegenwärtig, wie die Redaktion dem Autor mitteilte, »nicht in satirischer Form an deutschen Verhältnissen Kritik« geübt werden könne. Den ganzen Roman lernten 1914 in einer autorisierten Übersetzung nur die Leser einer Zeitschrift in St. Petersburg kennen. Im Jahr darauf lag er dort auch als Buch vor.
In Deutschland musste man bis Dezember 1918 warten, dann brachte Kurt Wolff den Roman in einer hohen Auflage heraus und schaffte damit, wie er im Januar 1919 stolz erklärte, »den denkbar größten Erfolg«, einen Erfolg, »wie ihn in den letzten Wochen und Monaten kein zweites Buch in Deutschland gehabt hat«. In gut zwei Monaten verkaufte er 100 000 Exemplare.
»Der Untertan« ist Heinrich Manns berühmtestes Buch geworden, eine der großen Prosaschöpfungen der klassischen Moderne, eine Persiflage mit prophetischer Kraft, die Geschichte des Bürgers in der Epoche des Imperialismus, der sich 1914, im Augenblick, als sein Schöpfer den Schlusspunkt setzte, schon als Ungeheuer erwies. Jetzt, zum 150. Geburtstag des Autors am 27. März, liegt der Roman bei S. Fischer, herausgegeben von Ariane Martin, in einer großen Jubiläumsausgabe vor.
Sie unterscheidet sich von allen bisherigen Editionen durch einen glänzenden Bild- und Materialanhang. Auf 200 Seiten ist alles an Dokumenten und Fotos zusammengetragen, was sich zur Entstehung und Rezeption des Buches finden lässt. Man sieht Seiten aus den Notizbüchern Heinrich Manns, Dialogentwürfe, Postkarten, das Titelblatt der ersten Buchausgabe in russischer Sprache, den Umschlag der deutschen Erstveröffentlichung im Kurt-Wolff-Verlag, dazu Briefe, Schreiben befreundeter Kollegen, die Korrespondenz mit dem Aufbau-Verlag, autobiografische Aussagen, Essaypassagen, Interviewauskünfte, Erinnerungen. Vieles davon, chronologisch geordnet, steht hier zum ersten Mal.
Breiten Raum beanspruchen die Zeugnisse, die den langen Entstehungsprozess des Romans illustrieren. Heinrich Mann hatte sich gründlich vorbereitet, so gründlich wie noch nie für ein Buch. Um das Metier Diederich Heßlings kennenzulernen, fuhr er in Papiermühlen und in eine Kunstanstalt. Er befragte Arbeiter und schrieb alle Auskünfte und Beobachtungen in ein Notizbuch. Im Oktober 1913 reiste er nach Augsburg, um eine »Lohengrin«-Vorstellung zu besuchen. Richard Wagner war ihm nie geheuer, aber sein Held verlangte, dass er sich nun kundig machte. »Soeben Lohengrin«, schrieb er danach im Hotelzimmer, »Diederich und Guste schwammen in Entzücken.« Er war zufrieden und überzeugt, sein Buch um »einige hübsche Seiten« bereichern zu können.
»Was ich machte«, urteilte Heinrich Mann später, Ende Mai 1949, im Briefgespräch mit dem Münchner Autor Karl Lemke, »fand innige Freundschaft und sonst nur Mißvergnügen. Ich schrieb im voraus, was aus Deutschland dann wirklich wurde. Man rechnet es mir an, als hätte ich es selbst angerichtet.«
Die Zeugnisse, die die Wirkungsgeschichte des Romans erzählen, bestätigen das bittere Fazit. Auf der einen Seite die große, oft begeisterte Zustimmung, mitreißend formuliert in der »Weltbühne«-Kritik Kurt Tucholskys (der 1927 noch einmal den »genialen Weitblick« des Autors rühmte) oder auch im »Berliner Tageblatt«, das in dem Buch »alle Phrasen der Zeit« und »alle Bürgertypen« wiederfand, »die Deutschland in der Welt verhaßt gemacht haben«. Noch viele Jahr später, im Februar 1936, hat der von Hitler vertriebene Klaus Mann im Tagebuch von der »amüsantesten und aktuellsten Lektüre« gesprochen. Für ihn war der Roman seines Onkels »ein nicht nur literarisch ganz außerordentliches, sondern absolut erschreckend prophetisches Buch: es kommt einfach alles schon vor.« Auf der anderen Seite der Hass auf einen Autor, der noch vor 1933 in rechten Blättern der »Antideutsche in Reinkultur« wurde. Der »Untertan« eine Schmähschrift, gar eine »wüste Parteischrift«, die geplante Verfilmung 1927 mit fadenscheiniger Begründung torpediert.
Das letzte Wort in dem vorzüglich edierten Band hat Ludwig Marcuse, der 1957 in einer Erinnerung einen Satz Heinrich Manns zitierte, mit dem der Exilgefährte in Kalifornien die Veröffentlichung seines Romans gleich nach 1945 kommentierte: »Wenn immer die Deutschen einen Krieg verlieren, drucken sie meinen ›Untertan‹.«
Zur Wahrheit gehört freilich, dass sein Buch, vom Aufbau-Verlag erstmals 1946 in 12 000 Exemplaren verbreitet, nur im Osten zu haben war. Die Deutschen im Westen mussten auf die Geschichte des Diederich Heßling lange warten.
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