Das Wesen des Ich-Journalismus

Vor zehn Jahren starb das Wunderkind des deutschen New Journalism Marc Fischer

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 4 Min.

Man denkt ja immer, Journalisten wären von Natur aus offene und neugierige Menschen. Bis man einige von ihnen kennenlernt und feststellt: Ihre Berufseinstellung ist auch nicht viel anders als die eines, sagen wir, Klempners - einer muss halt dorthin, wo es stinkt, und für klare Verhältnisse sorgen.

Schon deshalb war Marc Fischer kein typischer Journalist. Ihn zog es nicht zu den Latrinen von Politik und Gesellschaft, sondern zu Menschen, die Schönheit hervorbrachten - sein letztes Buch handelt von der Suche nach João Gilberto, dem Mann, der der Welt die Bossa Nova schenkte. Und selbst wenn Marc Fischer sich mit dem Rauchen auseinandersetzte, ging es nicht um Nikotin und Lungenkrebs, sondern darum, wie eine Zigarette Menschen näherbringt und dem Augenblick einen besonderen Wert verleiht.

Diese Art des Schreibens war natürlich kein neuer Hut. In Porträts und Reportagen hatten Autoren wie Truman Capote und Tom Wolfe bereits in den 60er und 70er Jahren eine ungewohnte, literarisch anmutende Erzählperspektive eingenommen. Der Verfasser gaukelte nicht länger vor, objektiv und allwissend zu sein. Er oder sie versteckte sich nicht hinter unpersönlichen Formulierungen, sondern benutzte selbstbewusst die erste Person Singular: »me«, »myself«, »I«. New Journalism nannten sich diese subjektiven Texte, die auch schon mal - wie Hunter S. Thompsons »Fear and Loathing in Las Vegas« - unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen entstanden.

In der alten BRD dauerte es ein wenig länger, bis sich das »ich« durchsetzte. Es war der Österreicher Markus Peichl, der im Februar 1986 mit »Tempo« nicht nur eine neue Zeitschrift, sondern auch ein neues Lebensgefühl verbreitete. Da gab es den Reisejournalisten Helge Timmerberg, bei dem jede Reportage zum Trip ins eigene Ich wurde. Den Kolumnisten Maxim Biller, der Monat für Monat »Hundert Zeilen Hass« abfeuerte. Und einen gewissen Christian Kracht, der eine Ode an den Cheeseburger verfasste. Das war bisweilen wunderlich, manchmal aufwühlend, oft auf eine verquere Weise wahrhaftig - und irgendwann ermüdend.

Doch just in dem Moment, da man sich am New Journalism sattgelesen hatte - weil es irgendwann zu viele untalentierte Nachahmer gab -, tauchte Marc Fischer auf. »Am Start erkennt man den Sieger« heißt es in »Es war einmal in Amerika«, und Fischer hatte einen Start wie in einem Hollywoodfilm. Es war in Kanada, 1994. Der Nachwuchsjournalist besuchte den Autor von »Generation X«, Douglas Coupland, um ein Porträt zu verfassen. Doch als Fischer Coupland wieder verließ, hatten die beiden die Rollen getauscht: Der Schriftsteller schrieb über die Begegnung mit dem Jungredakteur. Noch 22 Jahre später - da war Letzterer bereits tot - nannte Coupland ihn »my German friend Marc Fischer«.

Darin lag Fischers Einzigartigkeit: Er arbeitete keinen Fragenkatalog ab, sondern baute Nähe auf. Das konnte so weit gehen, dass sich ein Termin zu einem Date entwickelte. So wurde aus dem Interview mit dem Model Kate Moss eine Liebesgeschichte, die in dem Moment traurig endete, als ihr Freund aufkreuzte. Der Leser aber war glücklich, weil er sich im Liebeskummer des Marc Fischer wiedererkannte. Denn dieser hatte das Wesen des Ich-Journalismus verstanden. Es ging nicht um Nacherzählungen im Stile von »Mein schönstes Ferienerlebnis«, sondern darum, den emotionalen Kern einer Begegnung freizulegen. Wenn er von einer stundenlangen Autofahrt mit einer 15-Jährigen berichtete, erfuhr man mehr über das Gefühlsleben einer Teenagerin als in sämtlichen Shell-Jugendstudien. Und wer mit Fischer in der Schlange vorm Berghain stand, begriff auf einmal, worin die Faszination für diesen Technoclub lag.

Was zählte, waren Intensität und Authentizität. Deshalb machte es keinen grundlegenden Unterschied, ob er die Beastie Boys traf oder an einem Karaoke-Abend teilnahm - Fischer ließ sich auf die Welt, die er beschrieb, ohne Wenn und Aber ein. Er war nicht Beobachter, sondern Teilnehmer. Mittendrin, statt nur dabei. Selbst wenn er, wie im Roman »Jäger«, der Hauptperson einen anderen Namen gab, glaubte man stets Marc Fischer herauszuhören, nein, herauszufühlen.

Das funktionierte bis zum Schluss. Für seine letzte Reportage versuchte er, in Brasilien João Gilberto aufzuspüren. Er fand ihn nicht - und wurde dennoch fündig. »Hobala«, so der Titel des Buchs, ist eine Expedition ins Reich der Sehnsucht. Eine Reise, die selbst Marc Fischer an seine emotionalen Grenzen brachte. Kurz vor seinem 41. Geburtstag, im April 2011, endete sein Leben. So recht glauben mochte es keiner. Ein Journalistenkollege schrieb: »Es ist so komisch, dass Marc tot ist, weil er immer viel lebendiger war als die meisten anderen.«

Zum Weiterlesen: »Für immer sexy. Die NEXUS-Texte«, 112 S., geb., vergriffen. »Die Sache mit dem Ich. Reportagen«, KIWI, 304 S., 14,99 €. »Hobalala: Auf der Suche nach João Gilberto«, Rogner & Bernhard, 200 S., 9,90 €. »Jäger. Roman«, KIWI, 250 S., 14,99 €.

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