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  • »Ein anderer Krieg«

An den äußersten Fronten

Dan Diners neues Buch »Ein anderer Krieg« ist ein erstaunlicher Beitrag zu Geschichtsphilosophie, Erinnerungspolitik und Militärgeschichte gleichermaßen

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Anregungen für sein neues Buch »Ein anderer Krieg«, schreibt Dan Diner im Nachwort, gehen bis in die 70er Jahre zurück. Dieser Hinweis ist interessant und verrät bereits etwas über den Zuschnitt des Buches. In den 70er Jahren stand Diner aufseiten der Linken, und links hieß: Antifaschismus und Internationalismus; Nazi-Kritik und Antikolonialismus.

Nun schreibt der langjährige Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig über den Zweiten Weltkrieg - und das heißt: über Logistik, taktische und strategische Bündnisse, und militärische Raum-Zeit-Fragen. Der Leser wird mitgenommen zu den äußersten Fronten des Zweiten Weltkriegs, bis zu der zweifachen Entscheidungsschlacht 1942: in El Alamein und in Stalingrad.

Der Blick von Diner ist kein Blick von unten, sondern einer von den Rändern einer Weltgesellschaft, die vom Kolonialismus geprägt ist. Materialistisch ist dieses Buch, aber nicht im Sinne von Studs Terkel, der mit seiner Studie »The good war« eine Art Klassen- und Oral History des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat.

Für Diner gibt es mindestens zwei miteinander verwobene Kriege: den Krieg der Anti-Hitler-Koalition gegen die Achsenmächte und den Kampf der zionistischen Bewegung um die Staatswerdung Israels. Letzterer war sowohl gegen die britische Kolonialmacht als auch gegen einen großen Teil der arabischen Bevölkerung gerichtet, der mit Generalstreik, Pogromen und Verfolgungsorgien wie im Jahre 1936 deutlich machte, dass er eine weitere Zuwanderung von Juden ins »Gelobte Land« nicht akzeptieren würde. Und dann stand die alte Kolonialmacht Großbritannien als Teil der Anti-Hitler-Koalition Deutschland gegenüber, das einen ausgreifenden beispiellosen Vernichtungskrieg führte.

So sorgten nicht nur die antiplutokratische Propaganda und der »Arier«-Mythos des faschistischen Deutschland, sondern auch ganz realpolitisch eine Logik à la »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« für eine Verschränkung von antikolonialem Aufbegehren durch Großbritannien kolonisierter Akteur*innen mit deutscher Expansionslogik.

Diese sehr diffizile Ausgangslage, die entsteht, wenn man den historischen Blick auf den Krieg um die klassisch als »Dritte Welt« benannten kolonialen Gebiete erweitert, könnte man in unterschiedlicher Weise ordnen. 2005 brachte das Rheinische JournalistInnenbüro im Geiste des linken Internationalismus Struktur und Sinn ins Geschehen, indem es das Buch »Unsere Opfer zählen nicht« herausgab. Darin machten die Autor*innen auf die kolonialen Opfer des Zweiten Weltkriegs aufmerksam. Denn wenn man diesen als europäischen Krieg rezipiert, dann werden die nicht europäischen Soldatinnen und Soldaten in den diversen Armeen im Nachhinein unsichtbar gemacht.

Einige andere Publizisten haben hingegen vor allem auf die Verschränkung von antibritischen Begehrlichkeiten und prodeutschen bis pronazistischen Positionen in der arabischen Welt abgestellt. Hier wird von Autoren wie Matthias Küntzel (»Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand«) und anderen eine recht eindimensionale Wahrnehmung der Konstellationen des Zweiten Weltkriegs präsentiert: Auf der einen Seite stehen die Deutschen mit ihren europäischen Verbündeten wie Italien, Rumänien oder den bosniakischen muslimischen SS-Einheiten und außereuropäischen Verbündeten wie dem Großmufti von Jerusalem und dem Japanischen Kaiserreich. Auf der anderen Seite kämpfen die Alliierten einen »gerechten Krieg« unter anderem für die um ihr Überleben kämpfende Judenheit, deren Bestrebungen dann in dem Staat Israel gemündet seien. Israel erscheint so als direkte Folge des Zweiten Weltkriegs, der Zionismus mit seiner Staatswerdungsidee als einzig angemessene Antwort auf die Erfahrung der deutschen Vernichtung.

Dass dieses Bild zu einfach ist, macht bereits der Titel des Buches von Diner deutlich: »Ein anderer Krieg«. Denn der Krieg der Großen Drei der Anti-Hitler-Koalition gegen die faschistischen Achsenmächte und der Kampf der zionistischen Bewegung um Israels Staatswerdung treten auseinander. Zum anderen macht Diner in seiner Geschichtserzählung, die keinesfalls beliebige Geschichtenerzählung ist, deutlich, dass das Überleben der Juden in Palästina lediglich einem Zufall geschuldet war, eben dem britischen Sieg von El Alamein 1942 über Rommel und die Deutschen, und damit dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition, deren westlicher Teil davor auf der Flüchtlingskonferenz von Evian 1938 kläglich versagt hatte, wiederum sehr viel, wenn nicht alles verdankt. In einem Kapitel präsentiert Diner so den Ausruf eines Vertreters der linken Bewegung Poale Zion vom sechsten Kongress der israelischen Gewerkschaft Histatrud im Januar 1945, wonach es doch reiner Zufall gewesen sei, »dass wir in Palästina überlebt haben«. Nichts vertragen Geschichtsmythen besser als dieses Eingeständnis der Wirkmächtigkeit von historischer Kontingenz.

Darüber hinaus macht Diner deutlich, dass zionistischer Aufstieg nach Eretz Israel und realpolitischer Fluchtort auseinandertraten. Und der Historiker hält ebenso fest, dass die Überzeichnung der Rolle des im irakischen Exil sitzenden Großmuftis von Jerusalem der verzwickten Lage in Palästina unangemessen ist.

In einem interessanten Kapitel zu den Bombardierungen Haifas durch Flugzeuge des faschistischen Italiens wird deutlich, dass diese keineswegs zu einer Distanz der arabischen Bevölkerung gegenüber den Juden führten, sondern sich beide Gruppen gemeinsam ge- und betroffen sahen und eine gruppenübergreifende Solidarität überwog.

Ähnliches stellt Diner für die britische Armee fest, wenn er schildert, dass sich nach ihrer Gefangenschaft in Griechenland und Nordafrika arabisch-palästinensische Militärangehörige der britischen Streitkräfte mit jüdisch-palästinensischen Kräften zusammentaten und sich der Agitation von faschistischen Kräften verweigerten, sie mögen sich der Achse anschließen und gegen die britischen Kolonialherren kämpfen.

Es sind diese Elemente der Geschichtserzählung, die die deutsche Rezensionsgemeinde von Taz bis FAZ gerne verschweigt. Vielleicht weil sie lieber einen antiarabischen Küntzel gelesen hätten, auf dem das Gütesiegel Dan Diner steht.

Natürlich beschreibt Diner die pronazistische Haltung etlicher postkolonialer Akteure, er verweist auf die prodeutsche Baath-Partei des Irak, beschreibt das »Farhud« genannte Pogrom an den Bagdader Juden 1941. An Gandhis antienglischer Agitation und seiner zuweilen dunklen Position gegenüber Achsen-Mächten sollte auch ein überzeugter Graswurzel-Pazifist Anstoß nehmen. Während die 4. Indische Division, die aufseiten der Briten kämpfte, bei ihrer Rückkehr vom europäischen Kriegsschauplatz recht gleichgültig von der indischen Bevölkerung aufgenommen wurde, wurde wohl die aufseiten der Japaner kämpfende und unterlegene Indian National Army mit frenetischem Jubel nach ihrer Rückkehr im Heimatland aufgenommen. Allerdings stellt Diner auch die Bedeutung des prosozialistischen, antifaschistischen und durchaus militanten indischen Widerstandskämpfers Jawaharlal Nehru heraus, der immerhin von 1947 bis 1964 erster Ministerpräsident Indiens war.

Diners Buch zeigt so, dass eine multidirektionale Erinnerung, die Holocaust-Gedenken und Erinnerung an Kolonialverbrechen nicht hierarchisch und konkurrenzlos miteinander versöhnen will, wie es der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in seinem viel diskutierten Buch vorgeschlagen hat, mit Gegenläufigem und antagonistischen Widersprüchen zu kämpfen haben wird. Aber es finden sich eben auch Spuren einer anderen Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die Hoffnung macht, weil globale Solidarität, fortschrittliche Bündnisse und Verbindungen aktiviert wurden.

Dan Diner: Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942, DVA, 352 S., geb., 34 €.

Gerhard Hanloser ist Herausgeber des Buches »Linker Antisemitismus?«, das 2020 im Mandelbaum-Verlag erschien ist.

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