»Wir verteidigen unsere Würde«

Gabriele Winker skizziert im Kleinen beginnende Alternativen zur kapitalistischen Burnout-Gesellschaft

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.
Was verstehen Sie unter »solidarischer Care-Ökonomie«?
Sie stellt nicht Profitmaximierung und Renditeorientierung ins Zentrum ökonomischen Handelns, sondern menschliche Bedürfnisse. Notwendig ist ein solcher Wechsel insbesondere für den gesamten Care-Bereich. Dort kann nur dann qualitativ hochwertige Sorgearbeit geleistet werden, wenn mit deutlich mehr Personal auf die einzelnen Menschen eingegangen werden kann.
Interview
Gabriele Winker ist Sozialwissenschaftlerin. Sie lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg, ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg und des bundesweiten »Netzwerks Care Revolution«. Peter Nowak sprach mit ihr über ihr neues Buch »Solidarische Ökonomie – revolutionäre Realpolitik für Care und Klima« (Transkript-Verlag, 216 S.). Eine Online-Vorstellung des Buches mit anschließender Diskussion mit der Autorin findet am Mittwoch, dem 21. 4., ab 18 Uhr online statt. Sie wird via Facebook übertragen.

Dazu gehören aber auch alle weiteren notwendigen Bereiche wie Landwirtschaft, Wohnungsbau, Mobilität, Energieversorgung, die entsprechend der planetaren Grenzen ebenfalls direkt an menschlichen Bedürfnissen orientiert gestaltet werden. Hierfür müssen Krankenhäuser und Pflegeheime, aber auch Energie- und Autokonzerne den Privatunternehmen entzogen und in den Besitz der Allgemeinheit überführt werden.

Sehen Sie die Möglichkeit, dass im Zuge der Coronakrise Care-Arbeit gesamtgesellschaftlich aufgewertet wird?
Ich denke schon. Derzeit werden sich ja viele Menschen bewusster, auf was es im Leben ankommt: auf ein funktionierendes Gesundheitswesen, auf sorgsame Pflege bei Krankheit oder im Alter, auf ein gutes Bildungssystem, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch darauf, die Klimakatastrophe zu stoppen.

Vielen wird deutlich: Statt individueller Anhäufung von Vermögen sollten gesellschaftliche Vorsorge, reiche soziale Beziehungen, die auch Zeit brauchen, und der Schutz der Ökosysteme im Zentrum gesellschaftlichen Handelns stehen. Die Bedeutung der Care-Arbeit hierfür liegt auf der Hand.

Wo sehen Sie die Verbindung zwischen Care und Klimaschutz, die im Untertitel Ihres neuen Buches anklingt?
Für eine lebenswerte Zukunft ist es nicht ausreichend, die Arbeitsbedingungen für Care-Beschäftigte und familiär Sorgearbeitende zu verbessern. Menschen sind Teil der Natur und auf hinreichend intakte Ökosysteme angewiesen. Wir brauchen also nicht nur gesellschaftliche Bedingungen, die gelingende Sorgebeziehungen überhaupt erst ermöglichen. Wir benötigen darüber hinaus klimatische Verhältnisse, die auch den jüngeren Generationen und den noch nicht geborenen Generationen eine Perspektive geben.

Das derzeitige Wirtschaftssystem kann auf die Anforderungen für Güter und Produktionsverfahren, die sich aus ökologischen Veränderungen ergeben, ebenso wenig angemessen reagieren wie auf die an einen menschengerechten Ausbau des Gesundheits- und Bildungssystems.

In einem Kapitel Ihres Buches beschäftigen Sie sich mit Erschöpfung und Depression als gesellschaftliche Phänomene. Beschreiben Sie damit auch Probleme politischer Aktivist*innen?
Immer mehr Menschen leiden unter dem permanenten Leistungsprinzip und der dauerhaften Aufgabe, sich selbst zu optimieren. Davon sind sicherlich politisch Aktivist*innen ebenfalls betroffen, zumal für sie neben beruflichen und familiären Aufgaben auch die politische Arbeit von Bedeutung ist.

Damit nimmt die zeitliche Überforderung häufig noch zu. Allerdings: Wer die gesellschaftlichen Ursachen von gegenwärtigem Leid und Gefährdung der Zukunft erkannt hat, für den gibt es keine Alternative zum Engagement. Und im Streit für eine menschlichere Welt verteidigen wir zugleich auch unsere eigene Würde. Wegschauen und Wegducken geht nicht.

»Kein Ausweg im Kapitalismus« lautet eine Kapitelüberschrift in Ihrem Buch. Aber wie kann er überwunden werden?
Durch radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit, durch Aufbau einer individuellen und kollektiven sozialen Unterstützungsstruktur, durch Demokratisierungsprozesse und die Unterstützung von Commons, also der Nutzung gemeinsamer Ressourcen, sehe ich Wege in eine solidarische Gesellschaft. In ihr ist die Trennung zwischen entlohnter und nicht entlohnter Sorgearbeit aufgehoben.

Trotz der im Kapitalismus herrschenden Normen und Zwänge gibt es im Alltag viel solidarisches Handeln und Widerspruch gegen Leistungsdruck und Diskriminierung. Häufig ist dieses Engagement noch vereinzelt oder auf konkrete Notlagen vor Ort bezogen. Aufgabe von Aktivist*innen ist es, dies zu politisieren und eine Perspektive zu geben.

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