Sorgearbeit ist nichts für den Feierabend

Wer ein gutes Leben für alle anstrebt, muss Care-Tätigkeiten ins Zentrum ökonomischen Handelns stellen

  • Antje Schrupp
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Universität von Virginia/USA hat es untersucht: Vor Joe Biden hat kein einziger Präsident der Vereinigten Staaten jemals in einer öffentlichen Rede das Wort »caregiving« benutzt. In Deutschland dürfte es ähnlich sein: Erst in allerjüngster Zeit ist das Wort »care« - das sich mit »Sorge« oder »Fürsorge« im Deutschen nur ungenügend wiedergeben lässt - in politischen Debatten zu hören. Seit den 1970er Jahren haben feministische Denkerinnen und Aktivistinnen den großen Bereich der unbezahlten Sorgearbeit zum Thema gemacht, von Aktionen wie »Lohn für Hausarbeit« über theoretische Analysen bis zu Initiativen wie dem 2014 in Deutschland gegründeten Netzwerk Care-Revolution.

Heute kommt das Thema zunehmend im Mainstream an. Auch die dazu gehörigen Berufe haben eine Sichtbarkeit gewonnen, die historisch neu ist. Die Corona-Pandemie hat diesem Prozess jetzt noch einmal einen Schub gegeben. Als im ersten Lockdown die Kinder von Pflegekräften, Verkäuferinnen, Reinigungskräften und Busfahrern in die Notbetreuung der Kitas gehen konnten, weil ihre Eltern »systemrelevante« Beruf ausübten, während Manager, Juristinnen und Abteilungsleiter zu Hause bleiben und im »Home-Office« ihre Kinder im »Home-Schooling« betreuen sollten, sind Prioritäten sichtbar geworden: Care-Arbeit kann nicht verschoben werden, sie stellt unmittelbare Anforderungen und ist unverzichtbar. Das alles sind banale Erkenntnisse, aber sie wurden bisher selten offen ausgesprochen.

Die große Erkenntnis

Für eine kurze Zeit konnte man im Frühjahr 2020 den Eindruck gewinnen, die ganze Gesellschaft reibt sich erstaunt die Augen und merkt plötzlich: Hoppla, es kommt ja im Leben auf ganz andere Dinge an als auf Profite, Jetset und Schnickschnack. Sicher, das hilflose Applaudieren für Pflegekräfte war schon damals peinlich, aber dennoch kam etwas in den Blick, das ansonsten unter der Decke der öffentlichen Wahrnehmung gehalten wurde. Nämlich die Tatsache, dass die modernen, kapitalistischen Gesellschaften auf einem unsichtbaren, aber unverzichtbaren Fundament aus unbezahlter oder nicht ihrem wirklichen Wert entsprechend bezahlter Arbeit aufbauen.

Konsequent gehandelt wurde aber nicht. Die staatlich bereitgestellten Hilfen zum Abfedern der Folgen der Pandemie gingen ganz überwiegend an den kapitalistischen Teil der Wirtschaft, in Form von Kurzarbeitergeld, direkten und indirekten Zuschüssen. Eltern sollten sich mit einem eher symbolischen Corona-Elterngeld und einigen zusätzlichen Krankheitstagen begnügen, obwohl sie die tragenden Säulen des ersten Lockdowns waren: Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung hat untersucht, wie sich die plötzlich anfallenden zusätzlichen Care-Aufgaben auf die Verfügbarkeit der betroffenen Eltern für die Erwerbsarbeit auswirkten. Denn schließlich haben sie, als im Frühjahr 2020 Schulen und Kitas geschlossen wurden, um die erste Welle der Corona-Infektionen zu brechen, die damit zusammenhängenden Care-Arbeiten unbürokratisch und selbstverständlich übernommen. Das Ergebnis lautete: Auf ihre Erwerbsarbeitsleistung hatte das gut wie gar keine Auswirkungen. Zwar sind im April 14,5 Prozent und im Juni 8,1 Prozent der Erwerbsarbeitsstunden ausgefallen, aber nicht aus Gründen der Kinderbetreuung. Ganz offensichtlich haben Eltern - und besonders Mütter - einfach mehr gearbeitet und die unbezahlte Care-Arbeit zusätzlich zu ihren beruflichen Aufgaben gestemmt.

Widerstand der Corona-Eltern

Allerdings formierte sich durchaus auch schnell Widerstand. Unter dem Hashtag coronaeltern machten Betroffene in den sozialen Netzwerken auf ihre Situation aufmerksam. Auch wenn der tatsächliche Arbeitsausfall wegen Kinderbetreuung minimal war, symbolisch stand das Thema weit oben auf der Agenda. Die Eltern haben also den Bedarf zwar aufgefangen, aber nicht still und leise, sondern sie haben im öffentlichen Diskurs sichtbar gemacht, was sonst nicht gezeigt wird: Kinderbetreuung lässt nicht einfach so nebenher miterledigen, sie braucht Ressourcen. Dies zumindest dürfte inzwischen ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sein.

Der starke Protest der Eltern war vermutlich ein wesentlicher Grund, warum in der zweiten und dritten Corona-Welle Schul- und Kita-Schließungen nicht mehr das Mittel der Wahl waren, wobei natürlich auch die erbärmliche digitale Ausstattung von Schulen eine Rolle spielte, die guten Digitalunterricht größtenteils unmöglich macht, ebenso wie die Bedeutung sozialer Kontakte für Kinder. Doch leider wird die Aufrechterhaltung von Präsenzunterricht und Betreuung in Schule und Kita nicht durch eine strategische Zero-Covid-Strategie ermöglicht oder wenigstens durch entsprechend stärkere Infektionsschutz-Maßnahmen an den Arbeitsplätzen, sondern einfach, indem die Bevölkerung einem entsprechend höheren Infektionsrisiko ausgesetzt wird. Inzwischen sind es nicht mehr die Hochaltrigen, die die Intensivstationen mit schweren Covid-Verläufen bevölkern, sondern die Altersgruppen, die im Erwerbsleben stehen, und da speziell die Eltern von schulpflichtigen Kindern - denn sie können dem Risiko gar nicht aus dem Weg gehen.

Mehr als »Gleichberechtigung«

Hier rächt es sich, dass die Debatten um Care-Arbeit in Deutschland in der Vergangenheit hauptsächlich um die Narrative der »Gleichberechtigung« und »Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt« gekreist sind. Die beiden stärksten Motoren für eine Professionalisierung und Neustrukturierung von Care waren ja einerseits die Frauenbewegung, andererseits der neoliberale Kapitalismus - die einen wünschen sich Gleichstellung und professionelle Care-Infrastruktur, die anderen gut ausgebildete Arbeitskräfte, die flexibel den Anforderungen des Erwerbslebens zur Verfügung stehen.

In der Pandemie zeigt sich jedoch, dass Care-zentrierte Ökonomie mehr bedeutet als das. Es genügt nicht, Care-Notwendigkeiten so effizient zu organisieren, dass möglichst niemand mehr dadurch belästigt wird, sei es die Erwerbsarbeitswelt noch die berufstätigen Personen. Care-zentrierte Ökonomie bedeutet vielmehr, den Erhalt des Lebens und die Sicherstellung der Möglichkeit eines guten Lebens für alle Menschen ins Zentrum zu stellen. Die Ermöglichung eines guten Lebens für alle ist der Sinn und Zweck ökonomischen Handels - nicht das Profitmachen oder die Aufrechterhaltung bestehender volkswirtschaftlicher Strukturen.

Dass unser aktuelles Wirtschaftssystem von seiner inneren Logik her im wahrsten Sinn des Wortes über Leichen geht, ist in dieser Pandemie so sichtbar geworden, wie vorher selten. Vielleicht ist das sogar das Erschreckendste bei all dem: dass so viele Menschen an die behauptete Alternative von »Wirtschaft retten oder Menschenleben opfern« glauben. Dass so vielen Menschen die Behauptung - oder viel mehr Drohung - plausibel erscheint, wir müssten uns bei der Pandemiebekämpfung zwischen körperlicher Unversehrtheit und ökonomischem Auskommen entscheiden, oder, wie es häufig formuliert wurde, zwischen »Sicherheit« und »Freiheit«. Genau dieser Punkt ist es, an dem linke und feministische Debatten nun ansetzen sollten: indem sie diese Gegenüberstellung von Sicherheit und Freiheit hinterfragen. Indem sie ihre Kapitalismuskritik mit der Vision verbinden, dass ein gutes Wirtschaften möglich ist, ohne dabei das Leben und die Gesundheit eines Teils der Bevölkerung zu opfern.

Für eine krisenfeste Care-Ökonomie

Einfach nur zu bemängeln, dass Unternehmen mehr Finanzhilfen bekommen haben als Familien, greift viel zu kurz. Stattdessen gilt es, einzufordern und dafür Vorschläge zu machen, wie ökonomische, familiäre und gesellschaftliche Strukturen resilienter für Krisen gemacht werden können. Wie wir unsere Gesellschaft und Ökonomie so strukturieren, dass sie auch auf Unvorhergesehenes reagieren kann. Dass Menschen aufgrund von Care-Notwendigkeiten von einem Tag auf den anderen für die Erwerbsarbeit ausfallen, zumindest teilweise, ist ja nichts Neues. Neu war nur, dass dies wegen Corona so viele Menschen gleichzeitig betroffen hat, deshalb gesellschaftliches Thema wurde und nicht mehr wie sonst als individuelles Pech begriffen werden konnte: Ob sich der greise Schwiegervater plötzlich das Bein bricht, eine chronische Krankheit beim Schulkind diagnostiziert wird oder die Ehefrau einen Autounfall hat - es gibt viele Gründe, warum persönliche Care-Verpflichtungen der Lebensplanung einen Strich durch die Rechnung machen können.

Wenn wir die Zuständigkeit für all das nicht mehr automatisch bestimmten Menschen zuweisen können - traditionell Frauen oder schlecht bezahlten, meist migrantischen Arbeitskräften - sondern wenn wir es als volkswirtschaftliche Aufgabe sehen, dafür gerüstet zu sein: Was bedeutet dies für Arbeitsverhältnisse und Arbeitsorganisation? Für die finanzielle Absicherung? Die Antworten können variieren, von einem bedingungslosen Grundeinkommen über reduzierte Erwerbsarbeitszeit bis zu genossenschaftlichen oder commonsbasierten Organisationsformen. Aber entlang dieser Fragestellung wäre zu diskutieren.

Der entscheidende Perspektivenwechsel dabei ist folgender: »Care« ist nicht ein zusätzlicher Aspekt, ein zusätzliches Kapitel, das den derzeitigen ökonomischen Theorien angefügt werden kann. Sondern Care ist als Zentrum, als eigentliche Aufgabe von Ökonomie zu verstehen, und alle anderen Aspekte haben sich daran messen zu lassen, ob sie dieses Kriterium erfüllen.

Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp arbeitet als freie Journalistin, Bloggerin, Buchautorin und Referentin, vorwiegend zu feministischen Themen. Sie lebt in Frankfurt am Main.

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