• Kultur
  • Namenswitze in der DDR

Ein Schwein namens »Erich«

Es klingt wie eine Tierfabel, aber es ist eine wahre Geschichte aus der DDR der 70er-Jahre

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 7 Min.

Die DDR vor 50 Jahren: Nachdem sich seine einstmals engsten Genossen in Moskau die Erlaubnis zum Sturz eingeholt hatten, war es an Walter Ulbricht, an jenem 3. Mai 1971 auf dem 16. Plenum des ZK der SED zu erklären, dass er sich nach »reiflicher Überlegung« entschlossen habe, zurückzutreten: »Die Jahre fordern ihr Recht und gestatten es mir nicht länger, eine solche anstrengende Tätigkeit wie die des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees auszuüben. Ich erachte daher die Zeit für gekommen, diese Funktion in jüngere Hände zu geben…« - An diesem Tag begann die Ära Honecker, über die gerade im ND alles gesagt und geschrieben wurde. Eine Geschichte aber fehlt bislang.

Eines der schlimmsten Vergehen, dessen man sich in dieser Zeit und in diesem Land schuldig machen konnte, war zweifelsohne »Staatsfeindlicher Menschenhandel« (§ 105 des Strafgesetzbuches). Schenkt man damaligen Zeitungsberichten Glauben, solchen aus dem Teil Berlins, der schon immer Hauptstadt war, so machten die Agenten der Bonner Ultras allzu oft sozialistische Fachkräfte und Spezialisten mit Drogen und Alkohol gefügig, um diese dann wohin auch immer zu schaffen. Doch wie verhielt es sich mit staatsfeindlichem Tierhandel?

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Dass in dieser Hinsicht das Rechtssystem im Arbeiter- und Bauernstaat Lücken aufwies, wird beim Studium bestimmter MfS-Akten deutlich. Im Operativen Vorgang »Atelier« aus dem Jahr 1975 erzählt ein IM eine etwas verworrene Geschichte, in der die Schriftstellerin Franziska Groszer ein Schwein namens Erich verschenkte. Im Literaturbetrieb ist Franziska Groszer keine Unbekannte; für ihr »Rotz und Wasser« erhielt sie, nachdem sie in den Westen ging, 1987 den »Erich-Kästner-Kinder-und-Jugendbuchpreis«. Andere Bücher und andere Auszeichnungen folgten. Eigentlich heißt sie Franziska Großer. »Aber so heißt doch keiner«, sagt sie. Das »Künstler-sz« habe sie sich in Anlehnung an ihre Schwiegermutter Lucie Groszer zugelegt, die in der DDR eine erfolgreiche Kinderbuchverlegerin war und wohl das bei der Schreibweise in Versalien entstehende SS vermeiden wollte. Heute lebt und arbeitet Franziska Groszer in Berlin-Mitte.

Doch von vorn: Der Überlieferung nach hatte ihre Freundin Monika Palm zum Geburtstag ein lebendiges Ferkel bekommen, das sie, weil sie vorübergehend bei Franziska Groszer wohnte, mit in die Wohnung brachte. Franziska Groszer habe dem Tier sofort einen Namen gegeben. »Das ist doch Erich«, erinnerte sie sich vor einigen Jahren im Gespräch mit dem Autor. »Keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin.« Und ihr damaliger Lebensgefährte, der Bürgerrechtler Gerd Poppe, ergänzte: »Erich war doch eine Sau, wie der unsere Wohnung zugerichtet hat!« Hier in der Almstadtstraße hatte schon Thomas Brasch im Debattierzirkel zum Umsturz aufgerufen: »Machen wir denn nun Revolution oder nicht?!« Vorerst nicht, meinte Rudi Dutschke, der sich hin und wieder nach Ostberlin zu Franziska Groszer ins Scheunenviertel verirrte. Doch mit einem Mal schien jeder Diskurs zum wahren vs. realen Sozialismus unmöglich. Im marxistischen Sinne: das Schwein bestimmte das Bewusstsein. Oder dramatisch formuliert: Schwein oder nicht Schwein, das war die Frage.

Untergebracht in einem Karton aus Wellpappe, hatte auch Erich Bedürfnisse - und eben gewisse Nöte. Mit einem Hund geht man Gassi, aber mit einem Schwein? »Die Nachbarn haben schon nach wenigen Tagen protestiert«, so Gerd Poppe, der spätere Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, »das dauernde Gequieke …« Durchs Treppenhaus zog bereits ein Hauch von Erich. - Das Schwein musste weg. Doch wie jedermann weiß, werden Tiere mit Namen nicht geschlachtet und schon gar nicht gegessen. Der junge Eber war eine Retourkutsche: Monika Palm hatte dem Kind einer Bekannten ein Meerschwein geschenkt, worüber die Eltern nicht gerade erfreut waren und sich mit einem richtigen Schwein revanchierten. Und nun? Wohin mit Erich? Franziska Groszer kam die Idee: »Das Schwein gehört zu den Schweinen.« Konkret: ins Hochhaus am Leninplatz, in dem angeblich nur Bonzen und Polizisten wohnten und sicher auch Leute von der Stasi. In den erhalten gebliebenen MfS-Akten gewinnt die Geschichte nach und nach Kontur. Demnach suchte eine Gruppe von vier jungen Leuten ein Hochhaus am Leninplatz auf, blockierte nach Verlassen des Fahrstuhls die Rufanlage und klingelte wahllos an einer Wohnungstür. Nachdem eine unbekannte weibliche Person öffnete, rief Franziska Groszer: »Sie haben gewonnen! Sie haben gewonnen!« Daraufhin stopfte sie der Unbekannten einen Strauß Blumen in den Arm, übergab ihr ein Begleitschreiben und hängte ihr eine Plakette mit Schweinskopfprägung (»Das Beste für die Besten«) samt schwarz-rot-goldener Kordel um den Hals. Mit den Worten »Hier unser kleines Präsent!« wurde das Ferkel dann über die Türschwelle geschoben, worauf es quiekend in Richtung Wohnzimmer verschwand.

»Erich wird sich schnell an Sie gewöhnen«, konnte die alte Dame in dem Zehn-Punkte-Schreiben lesen. »Bitte tun Sie, was in Ihren Kräften steht, Erich fühlen zu lassen, dass er als ein echter Freund in Ihrer Familie willkommen ist. Was Sie über Erich wissen müssen:

1. Er ist ein Schwein.
2. Schweine zählen zu den 10 intelligentes- ten Tierarten.
3. Benutzen Sie in Erichs Gegenwart nie das Schimpfwort ›Schwein‹.
4. Erich ist 5 Wochen alt und, wie Sie be- merkt haben, noch etwas klein. Aber sorgen Sie sich nicht: Schon in zwei Monaten wird er Ihrer Badewanne entwachsen sein. Es liegt an Ihnen, ihm dann einen angemessenen Auslauf zur Verfügung zu stellen.
5. Denken Sie daran: Auch Schweine darf man nicht enttäuschen.
6. Erich frisst Weißbrot und Milch. Etwa 10mal am Tage. Auch 14mal ist nicht zu viel. Geben Sie auf gar keinen Fall Schwarzbrot. Das verträgt er nicht.
7. Es empfiehlt sich, Erich mit Kalktabletten und Vitamintropfen zu versorgen.
8. Dank Ihrer liebevollen Pflege und zärtlichen Fürsorge wird Erich sich bald bei Ihnen heimisch fühlen und dies auf seine schweinische Art bekunden.
9. Bevor Sie Erich auf den Balkon führen, versäumen sie nicht, Graham Greenes Geschichte ›Ein peinlicher Unfall‹ zu lesen.
10. Besorgen Sie sich alsbald die Schrift: ›Das Gemeine Hausschwein‹, denn um ein solches wird es sich bei Erich in etwa einem halben Jahr handeln.

Und nun: Viel Spaß mit Erich!
PS.: Bitte werfen Sie morgen einen Blick in die ›Berliner Zeitung‹.«

Im Operativen Vorgang »Atelier« heißt es weiter: »Anschließend begaben sich die an diesem Vorkommnis beteiligten Personen zu dem ›Cafe Burger‹ in der Wilhelm-Pieck-Straße, bei dem es sich um das Stammlokal von Franziska Großer (sic!) und ihres umfangreichen Bekanntenkreises handelt.«

Strafe muss sein, so die einhellige Meinung der Tschekisten. Doch gegen welches Gesetz war eigentlich verstoßen worden? Selbst in der DDR war das Verschenken lebendiger Ferkel nicht unter Strafe gestellt, egal welchen Namen diese auch trugen. Und »Hetze«? Das DDR-Strafgesetzbuch bot da bekanntermaßen einigen Spielraum, nur hatte die Sache einen Haken: Wie aus einem MfS-Gutachten der Abteilung IX vom 7. Juli 1975 hervorgeht, musste im Zuge der Beweisführung damit gerechnet werden, dass der Inoffizielle Mitarbeiter dekonspiriert würde. (Sehr unangenehm, zumal es sich um Franziska Groszers beste Freundin handelte.) Erschwerend hinzu käme, dass die betroffene Bürgerin (die Dame im Hochhaus) nicht in der Lage sei, konkrete Angaben zu den Motiven der Täter zu machen. Daher seien »weder die objektiven noch die subjektiven Voraussetzungen für die Erfüllung des Tatbestandes der staatsfeindlichen Hetze gemäß §106 oder der Staatsverleumdung gemäß §220 StGB gegeben.« Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sei daher nicht möglich. Eine Hoffnung aber blieb: Die Handlungen stellten eine Ordnungswidrigkeit dar, im Sinne des §4, »Störung des sozialistischen Zusammenlebens«. In der Verordnung über Ordnungswidrigkeiten vom 16. Mai 1968 war unter Absatz 1 die »ungebührliche Belästigung von Bürgern« unter Strafe gestellt, jedoch nur mit bis zu 300 Mark pro Person. Und das war selbst der Stasi zu billig.

Und Erich, das Schwein? In der entsprechenden Akte heißt es über den Abend nach der Tat: »…da die Aufnahme der Anzeige sowie die Entgegennahme des lebenden Ferkels von dem Wachhabenden des VP-Reviers abgelehnt wurde, warf die Zeugin die Plakette nach Verlassen des Reviers auf der Straße weg und begab sich anschließend zum Volkspark Friedrichshain, wo sie das Ferkel aussetzte.« Die Freiheit aber währte nicht lange. Längst war Erich, das Schwein, Thema an allen Stammtischen. Dem musste Einhalt geboten werden. Von wegen Stadtluft macht frei: Erich wurde gefangen und dem Stall einer Genossenschaft außerhalb Berlins zugeführt. Über sein weiteres Schicksal liegen keine Kenntnisse vor.

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