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Totale Gegenwart in der bunten Tristesse
»Die Politiker« von Wolfram Lotz sind am Thalia Theater in Hamburg zu sehen - zunächst als Livestream
Langsam nähert sich die Kamera von der Hinterbühne dem Geschehen an, schwenkt dann schnell umher, fokussiert mal schwer erkennbare Details des Bühnenbilds, dann wieder Gesichter der Schauspieler, Close-ups. Wer spricht hier? Und woher kommt das Stimmenmeer? Haben wir es hier mit einem Live-Hörspiel zu tun, und die Bilder sind nur zufällige Illustrationen? Erst allmählich kommt Ruhe in die Kamerafahrten, werden die sieben Schauspielerinnen und Schauspieler erkennbar, die sich zu einem Sprecherchor formiert haben, bekommt der Zuschauer ein Gefühl für den Bühnenraum.
Das Thalia Theater in Hamburg hat zweierlei Spektakel angekündigt: »Das, was vor Ort zu sehen ist und das, was auf dem Bildschirm zu sehen sein wird, sind unterschiedliche Inszenierungen des gleichen Theaterspiels. Wer sieht was? Zwei Wirklichkeiten stehen nebeneinander.« Nach wenigen Minuten des Zusehens wird klar, was damit gemeint sein könnte. Die Livestream-Übertragung des Premierenabends von »Die Politiker« in der Nebenspielstätte der Hamburger Bühne am vergangenen Freitag wurde nicht frontal so abgefilmt, wie sie bald für ein anwesendes Publikum gezeigt wird - wofür in der Hansestadt bei Betrachtung der zum Maßstab erklärten Inzidenzwerte leiser Anlass zur Hoffnung besteht. Der Kameramann Max Schlehuber fängt das Bühnengeschehen ein und lässt daraus ein zweites Kunstwerk entstehen, das eher an einen Experimentalfilm erinnert und für den Zuschauer nicht die ermüdende Wirkung eines konventionellen Theatermitschnitts hat.
»Die Politiker« heißt also das Stück des jungen Dramatikers Wolfram Lotz. Was für ein Titel für ein Stück zeitgenössischer Theaterliteratur! Aber Lotz’ Text ist keine spitzzüngige Abrechnung mit der herrschenden Klasse, kein Berliner Politkrimi, keine dramatische Anordnung um politische Machtkämpfe à la William Shakespeare. Wir haben es mit einem leisen Poem zu tun, das vor allem eine Selbstbetrachtung - vielleicht ein Generationenporträt? - in post-politischen Zeiten darstellt. »Die Politiker, die Politiker« heißt es wieder und wieder in den Lotz’schen Versen fast beschwörungsartig. Aber hier wird nicht vordergründig über Politik gesprochen, und den Politikern, von denen unaufhörlich im Text die Rede ist, kommen die Zeilen nur in Phrasen, Wortspielen, Bildern immer näher. Lotz scheut den Kalauer nicht und greift auch auf die Struktur von Kinderreimen zurück. Alles um ihn herum wird ihm zum Anschauungsobjekt: von Bratkartoffeln über Arbeitslose bis hin zu Hunden und Katzen.
Wolfram Lotz ist kein unpolitischer Autor. In seinem 2014 uraufgeführten Stück »Die lächerliche Finsternis« hat er die kriegerische deutsche Außenpolitik des 21. Jahrhunderts in ausgesprochen kluger, künstlerisch verdichteter Form auf die Bühne gebracht - und damit zeitgenössische politische Dramatik zurück auf die Spielpläne. Was hat aber dieser Wortschwall in »Die Politiker« zu bedeuten, der beim Zuhören einen Sog entwickelt? Das Stück, das viel mehr mit einem Langgedicht als mit einem klassischen Theatertext zu tun hat, ist die gnadenlose Beschreibung eines Lebens, das sich in keinem Zusammenhang mit dem politischen Geschehen verorten kann. Eine der größten Krisen des politischen Systems besteht doch immerhin darin, dass sich die Menschen dazu in kein Verhältnis zu setzen wissen. Gefühlt leben sie außerhalb einer politischen Realität. »Das Private ist politisch«, wurde um das Jahr 1968 skandiert. Aber was ist, wenn die Playstation, die Schwalben am Himmel und die Politiker ununterscheidbare Bausteine in der Ödnis Leben werden? Wenn alles egal ist, ganz gleich, ob politisch oder privat oder sonstwas? Lotz zeigt die kapitalistische Gegenwart als Archiv der Bedeutungslosigkeiten: »Netflix Stuhl Tisch Schemel Sofa Sofa«. Der Alltag heißt Depression.
Wolfram Lotz hat empfohlen, seinen Text zusammen mit einem weiteren Stück aufführen zu lassen. Ein kühner Vorschlag. So wurde es etwa auch bei der Uraufführung am Deutschen Theater in Berlin durch den Regisseur Sebastian Hartmann gehalten, der erst Shakespeares »König Lear«, den schweren Stoff über einen Herrscher, der den Thron nicht freigeben kann, und im Anschluss »Die Politiker« als Monolog hat zeigen lassen. Eine solche Erweiterung von einem Text durch einen zweiten kann durchaus Spannung erzeugen. Für Lotz‘ Stück, das vor allem assoziativ funktioniert und kein eigentliches Drama, keine Handlung aufweist, könnte ein solcher Schritt tatsächlich das richtige Mittel sein.
Charlotte Sprenger, die Regisseurin der Hamburger Inszenierung, hat sich - wie die meisten ihrer Regiekollegen, die sich dieses Stoffes angenommen haben - allerdings gegen eine solche Textverknüpfung entschieden. Ihr gelingt es, das Theatergedicht, wie der Autor es genannt hat, ohne größere Hinzufügungen in einen neunzigminütigen Abend zu verwandeln. Die exakte Sprachregie hinterlässt dabei sicher den stärksten Eindruck. Noch Tage später hallt es im Kopf des Zuschauers nach: »Die Politiker, die Politiker«. Selten sind auf Bühnen so genaue und kraftvolle - aber nicht aggressive - Sprechchöre zu hören gewesen. Sprenger dekliniert die Arten des Sprechens und des Selbstgesprächs auf der Bühne durch. Immer wieder treten aus dem Chor einzelne Schauspieler heraus, nehmen einander den Text ab, reagieren mit Versen aufeinander.
Die Spielfläche in der von Aleksandra Pavlović eingerichteten Bühne ist in allen Richtungen von einem niedrigen Zaun umgeben. Campingstühle und Kunstpflanzen finden sich in dem kargen Bühnenbild. Die Totale der Kamera, die bei diesem Livestream die Ausnahme bleibt, gibt eine Idee davon, wie das Bühnengeschehen vom Zuschauersaal aus aussehen könnte. In der Mitte der Bühne - auf Kufen wie ein Schaukelstuhl positioniert und durch eine Leiter zu erreichen - steht ein begehbares Zimmer. Hierhin ziehen sich die Spieler zurück und bleiben doch dem Zuschauerblick ausgesetzt. Lotz hat »Die Politiker« als »Selbstgespräch am offenen Fenster« bezeichnet, was das künstlerische Team damit bildhaft in die Inszenierung eingeschrieben hat. Die Kostüme, die Anna Degenhard beigesteuert hat, scheinen aus fernen Filmwelten zu stammen. Surreal überzeichnet, freudlos-grell, traurig-schön. Bühnen- und Kostümbild fügen sich somit zu einem Gesamtbild: die totale Gegenwart in der bunten Tristesse.
Charlotte Sprenger hat ihre Regiearbeit ganz in den Dienst des nachwirkenden Textes von Wolfram Lotz gestellt. Besonders das Hörerlebnis dieses Abends sorgt für großes Vergnügen und wird der Kunstsprache des Autors durchaus gerecht. Bei der fulminanten Choreografie der Kamera, die zielsicher durch das Bühnengeschehen führt, fehlt es aber zuweilen an einem stärkeren Zugriff der Regisseurin. Die ungehemmte Konkretheit des Textes, der dennoch ein Assoziationsreigen bleibt, hätte einer stärkeren Setzung bei der Inszenierung bedurft. Die Regisseurin setzt auf ein sicheres Mittel: Den ohnehin musikalischen Text unterbricht sie durch Gesangseinlagen des auch in dieser Hinsicht mehr als unterhaltsamen Ensembles. Unter anderem Lesley Gores »It’s my party«, Harpos »Moviestar« und Domenico Mudognos »Volare« erklingen.
Aufs Ganze geht die Inszenierung dann aber, als zwei Audioeinspielungen kommentarlos ineinander übergehen. Erst ist die Stimme von Angela Merkel zu hören, wie sie die verordneten Ruhetage über Ostern zur Pandemieeindämmung zurücknimmt - »Dieser Fehler ist ganz und gar mein Fehler« -, und anschließend erklingt die gepresste Stimme von AfD-Spitzenkraft Alice Weidel, wie sie im Dezember letzten Jahres im Bundestag mit dem allseits Bekannten hetzte. Das fügt sich nahtlos in den wortreichen Livestream ein, man zuckt kaum noch, das politische Für und Wider werden zu abstrakten Informationen. Wen es dann nach ein paar Sekunden doch schaudern macht, der ist noch am Leben.
Nächste Livestream-Vorstellungen am 14. und 24.5.
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