Jesus und die Konferenzschaltung
Wiglaf Drostes Schlawinerleben, dargestellt in lehrreichen Kurzgeschichten, von ihm höchstselbst verfasst
Mein Lieblingsjesus
Wiglaf Droste hat Zeit seines Lebens autobiografische Erzählungen verfasst, die - verstreut veröffentlicht - zusammen eine Schnitzeljagd durch sein wildes Leben bilden. Droste geht auf eine Reise mit Max Goldt durch Finnland, berichtet über seine ersten Leseauftritte mit Michael Stein in den Ost-Provinzen, über eine abenteuerliche Fahrt mit Joachim Król, Fritz Eckenga und anderen ins Old Trafford Stadion.
Er schreibt über ein gekreuzigtes Kaninchen in Portugal, über eine Recherche im Frankfurter Blaulichtmilieu mit Achim Greser, aber er beichtet auch einiges aus seinem strummseligen Leben als Jugendlicher und wie er in Erwartung eines psychedelischen Erlebnisses Curry rauchte. So wie auch Wiglaf Droste gerne befreundete Autoren einlud, um in seinen Büchern zu veröffentlichen, sind im Band auch Gastbeiträge einiger seiner Weggefährten enthalten.
Wiglaf Droste, 1961 in Herford geboren, lebte in Leipzig, Berlin, unterwegs und die letzten Jahre in Pottenstein. Er schrieb seit 2011 eine tägliche Kolumne für die junge Welt und lieh auf Hörbüchern einer Vielzahl von Schriftstellern seine Stimme. Für seine harsche, polemische, liebevoll wortschöpferische und lyrische Sprache wurde Wiglaf Droste mehrfach ausgezeichnet. Er verstarb im Mai 2019.
Als Kind war ich so mager, dass ich manchmal Biafra genannt wurde. Ich konnte auch gut Bodenturnen, aus der Brücke in den flüchtigen Handstand und solche Sachen, so dass ich bei manchen auch Gummimännchen hieß. Ein anderer Spaß war das Vorgelesenbekommen, Grimms Märchen, Wilhelm Busch, Kästners »Emil und die Detektive«, und manchmal auch etwas aus der Bibel: ein netter Mann, der von gar nicht netten Männern in einen Brunnen gestopft wurde, etwas nicht zum Gläubischwerden, sondern mehr als historisches Abenteuer. Geglaubt werden musste zu Hause nicht, der liebe Gott hatte bei uns nicht viel zu tun und konnte sich um andere kümmern, die ihn nötiger brauchten. Im Kindergottesdienst lernte ich Jesus kennen, einen komischen Kerl auf einem Esel, der später ans Kreuz gehauen wurde. Das fand ich gemein. Jesus tat mir leid, war mir ansonsten aber egal. So richtig klasse war der nicht, es fehlte wohl der Glamour. Erbärmlich dünn und mergelig hing er am Kreuz herum. Ich dachte immer, der könnte doch wirklich endlich nach Hause gehen.
Später erwärmte ich mich für die Kitschästhetik von Puttenengeln und Marienbildern, aber Jesus hätte ich mir nie an die Wand gehängt. Der Typ verbreitet einfach etwas Ungutes, Penetrantes. In Mexiko liebäugelte ich mit dem Kauf eines Jesuskopfes, der mit einer Stacheldrahtkrone verziert war, in der rote Lichter blinkten. Die vollkommen geschmacksferne Anbetung Gottes und der Seinen in südlichen katholischen Ländern scheint mir noch heute die angemessenste Art und Weise religiöser Verehrung zu sein. Der Protestantismus schafft das nicht; hier ist Jesus das Gespenst der Bulimie, eine Ikone des Verzichts, des stilisierten Mangels. Das macht keine Freude.
Das kreuzigungsfähige Alter habe ich unangenagelt überstanden. Ich musste gut 40 werden, bis ich einen Jesus nach meinem Herzen fand. Ausgerechnet in Brandenburg geschah es, in Groß Ziethen, unweit Berlins. Groß Ziethen hat das bewährte Brandenburger Programm zu bieten: landschaftlich schön, menschenlandschaftlich eher nicht so. Sogar die jungen Landwirte, die auf ihren Treckern durchs Dorf pümpelten, trugen die landesübliche politische Kurzhaarfrisur. Dennoch stieg ich aus dem Auto, um eine Kirche zu besichtigen und dort eine Kerze anzuzünden; ich weiß nicht warum, aber es scheint mir eine geeignete Maßnahme zu sein, dafür Sorge zu tragen, dass die Liebe nicht erlischt. Ich betrat die Kirche von Groß Ziethen und sah IHN: Er sah aus wie ich. Er hatte unpolitisch kurze Haare, er hatte kräftige Oberschenkel und kräftige Waden, und er hatte einen Bauch. Ich stürmte auf ihn zu und fasste ihn an: rund und hart und fest im heiligen Fleische, yippieh! Jesus, Jesus, so geht es doch auch: unverhärmt, tipptopp im Futter und gut durch den Winter gekommen. Zum Dank legte ich eine Lieblingskastanie auf den Altar, beugte das Knie und ging, auch ich eine Art Jesus: Für die Leserinnen und Leser dieses Textes habe ich eine schwere Last auf mich geladen - einen ganzen Tag in Brandenburg vollbracht.
Erinnerung an 1968
Im Spätsommer 1968 war ich gerade sieben Jahre alt. Ich ging in die zweite Klasse der Bürgerschule I in Bad Oeynhausen und wollte meine Lehrerin heiraten, Fräulein Jording. Sie war genau mein Typ: intelligent und sexy. Fräulein Jording hatte aber schon einen Verlobten, von dem sie manchmal glücklich erzählte. Das tat sehr weh. Doch fand ich Trost in den Armen von Elke Göhmann, einer gleichaltrigen benachbarten Bäckerstochter. Elke Göhmann gefiel mir auch sehr, obwohl sie mir mit sieben eigentlich viel zu jung war. Häufig knutschten wir ausgiebig im Heu. Als es beim Küssen einmal zu einer Art kindlich-unschuldigem Geschlechterverkehr kam, wurden wir von unseren beiden zwei Jahre älteren Brüdern überrascht, die nichts Besseres zu tun wussten, als im jeweiligen Elternhaus detailliert zu petzen. So wurden Elke Göhmann und ich roh getrennt - und schon in jungen Jahren wurde ich so von den Wonnen genau der herrlichen weiblichen und überhaupt ganzheitlichen Sexualität hinfortgerissen, die doch das Hauptversprechen jener Jahre war: Unsere Nachbarin Frau Richartz, eine aufregende Blonde, hatte rot lackierte Fußnägel, die meine Phantasie noch jahrelang auf Trab hielten.
Auch mein erstes Großkulturerlebnis fällt in das Jahr 1968. Meine Mutter nahm meinen älteren Bruder und mich mit ins Lichtspielhaus. In Kino 2 lief Walt Disneys »Dschungelbuch«, in Kino 1 Sergio Corbuccis »Django - Der mit dem Sarg ist da«. »Django« war ein Italo-Western ab 18 und klar mein Film, »Dschungelbuch« war Zeichentrick und für Babys, pah! Ich machte ein bisschen Theater, meine Mutter sah sich das eine kurze Weile mit an und ließ keine Zweifel daran, was Sache war: »Dschungelbuch«, fertig. Vor Shir Khan dem Tiger und der Schlange Kaa hatte ich dann eine Heidenangst und war sehr froh, dass meine Mutter mit im Kino saß, zum Anklammern. »Django« sah ich etwa 15 Jahre später, eine bescheuerte Maschinengewehrballerei mit Franco Nero, während Corbuccis zwei Jahre nach »Django« gedrehter 1968er Schneewestern »Il Grande Silenzio« (auf deutsch erstaunlicherweise: »Leichen pflastern seinen Weg«) mit dem eisgemeinen Klaus Kinski und dem stummschönen Jean-Louis Trintignant mich heftig mitnahm.
Was ist geblieben von den 68ern? Ein bisschen Restlibertinage und viel die Eigenschulter klopfende Legenderei. Fräulein Jording heiratete ihren Verlobten, meine Eltern zogen von Bad Oeynhausen nach Bielefeld-Altenhagen, ich musste mit. Meine schönlockige Mitschülerin Gisela, die für mich schwärmte wie ich für sie, deren Nachnamen ich aber nicht mehr weiß, gab aus Kummer über den Abschied ihrem neuen Goldhamster meinen Vornamen. Mein älterer Bruder, der eine Zeitlang noch Elke Göhmanns Bruder besuchte, teilte mir nach einem seiner Ausflüge nach Bad Oeynhausen hämisch mit, Giselas Hamster namens Wiglaf sei verreckt und begraben. Aber das war gewissermaßen schon Postachtundsechzig, auch wenn das 1970 keiner so gesagt hätte. Politisch lässt sich die Geschichte der 68er in zwei Zeilen zusammenfassen:
Es war zuviel Mode dabei achtundsechzich -
und das rächt sich.
Nie wieder!
Ich erinnere mich, wie ich als Kind zum ersten Mal Scholle aß. Der platte Fisch lag goldbraun duftend auf dem Teller und schimmerte buttrig, meine Mutter mahnte, auf die Gräten aufzupassen, aber irgendwann erwischte ich doch eine, sie hakte sich in meinem Halse fest, und nur unter langwierigem Husten und Rückenklopfen konnte ich mich von ihr befreien. Am Ende der Mahlzeit gelobte ich mit feierlichem Ernst »Nie wieder Scholle!« Der Schwur war nicht von Dauer, und so muss ich auf köstliche Maischolle ebensowenig verzichten wie auf Scholle Finkenwerder Art, die auf meiner ersten längeren Reise durch die Nicht-mehr-DDR 1991 gleich mehrfach als »Scholle Finkenwärter Art« angeboten wurde, was zu ironischen Bemerkungen führte: »Typisch Osten! Sogar die Finken sperren sie ein!«
Als Jugendlicher in den 70er Jahren kam ich erstmals mit deutscher Geschichte und Politik in Berührung. Zwar hatte Nazideutschland 1945 kapituliert, aber die zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches« hatten einen langen Nachhall. Die Verbrechen der Deutschen waren so ungeheuer widerlich, und ihre alten Repräsentanten saßen weiter obenauf. Der Nationalsozialist Kiesinger hatte Bundeskanzler werden können, der ranghohe SS-Offizier Schleyer war Arbeitgeberpräsident, und gemütlich aussehende Bäckersfrauen strichen mit dem Kugelschreiber die Gesichter von erschossenen RAF-Leuten auf Fahndungsplakaten durch. Auf Demonstrationen gab es immer wieder Transparente und Sprechchöre: »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« Das war ja eine Selbstverständlichkeit und eine klare Sache, aber manche konnten gar nicht genug davon bekommen, immer wieder »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« zu skandieren. Auf »Nie wieder Faschismus!« folgte unweigerlich »Nie wieder Krieg!«, danach konnte man sozusagen die Uhr stellen. Es handelte sich um einen jener Automatismen, von denen heutige Fußballkommentatoren so gern sprechen. Der menschliche Kopf aber ist kein Fußballplatz, fürs Denken sind Automatismen tödlich.
Wenn Gebetsmühlen mahlen, hilft nur Humor. Legendär sind die Transparente von Fans des FC St. Pauli: »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Nie wieder 2. Liga!« So unverbissen, lustig und intelligent geht es doch auch, und wer da von »Relativierung« redet, hat ganz einfach den Witz nicht verstanden. »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« Ja sicher, gebongt, und deshalb ist rituelle Selbstversicherung gar nicht nötig. Gerade wer in der Substanz einverstanden ist, fühlt sich von der ständigen Wiederholung des Immergleichen belästigt und kopfmäßig düpiert.
An alle, die »Nie wieder!« schreien:
Nehmt dies: Nie wieder Litaneien!
Lob der Konferenzschaltung
Es war ein Samstagnachmittag Anfang der Siebzigerjahre. Das heftig Richtung Pubertät sich entwickelnde Leben war reine Not und Langeweile. Ein Nachbarsjunge auf einem Bonanza-Fahrrad fitschte durch den abgetötet daliegenden Bielefelder Vorort, zu dem das Schicksal mich verurteilt hatte. Ich fuhr in die entgegengesetzte Richtung: Bonanza-Rad war doof, und wer eins fuhr noch mehr, das stand fest. Unfroh und döselig juckelte ich auf meinem Fünf-Gang-Rennrad herum, hin und her durch die nicht verrinnen wollende Zeit. In einer langen Parkbucht akkurat immer drei Meter hintereinander aufgereiht standen Mittelklassewagen. Männer in Freizeitkleidung, genauer: in blauer oder schwarzer Turnhose und weißem Unterhemd, waren mit - mhhm, leckerlecker -Johnson’s Autopudding zugange. Da wurde gewaschen, geledert, gewienert und poliert: Es wachste zusammen, was zusammengehört.
Aus jedem Autoradio dröhnte unisono WDR 2, Sport und Musik: »Wir geben jetzt herüber zu Jochen Hageleit. Hallo Jochen, in Bochum ist ein Tor gefallen ...?« Damals, aus dem Dutzend Autoradios, hörte ich zum ersten Mal das magische Wort: Konferenzschaltung. Von da an wurden die Samstagnachmittage kürzer, und mittwochs gab es Diskothek im WDR mit Mal Sondock. Konferenzschaltung - das war klassisches Dampfradio: lahm, verschnarcht, lehmzäh und bräsig - und verglichen mit dem heutigen Fußballkrawall geradezu zauberhaft charmant, leise und unaufdringlich. Die zwischendurch gespielte Musik war schauderhaft launiger Sportrock. Das hat sich bis heute erhalten, und doch: In Schreihalszeiten wie diesen ist die Fußball-Radio-Konferenzschaltung wieder ein Fluchtpunkt - nicht mehr vor dem längst als angenehm empfundenen samstagnachmittäglichen Ereignisvakuum, sondern vor den Dauerlautsprechern der TV-Fußballvermarktung.
…
Eine andere Quelle der Qualen aber wurde stillgelegt: das F.A.Z. Business Radio, in dem die stümperhaftesten Versprecher des Landes walteten und den Samstagnachmittagsfußball zerstammelten. Die Fürsten der Phrase sind raus aus dem Äther, und das Wort Konferenzschaltung hat wieder seinen tröstlichen Klang.
Wiglaf Droste
Chaos, Glück und Höllenfahrt. Eine autobiografische Schnitzeljagd
Herausgegeben von Klaus Bittermann
Klaus Bittermann Edition
360 S., geb.; 24,00 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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