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Eine große Erzählung von Traum und Wirklichkeit
Eine Referenz in exzellenten Essays an den unbeirrt durch die Gegenwart geisternden Karl Marx
Sammelbände erlangen selten die Gunst des Feuilletons. So viele Themen - das überfordert Autor, Redakteur und Leser. Versuchen wir’s. »Auf den Schultern von Karl Marx« heißt ein Kompendium, das ein Herausgeberkollektiv der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgelegt hat. Der ambitionierte Titel fasst die Breite des Diskurses nicht ganz.
Zunächst wird der Entwicklung des Marxschen Werks nachgespürt, beginnend in Michael Bries prägnanter Analyse von dessen Tätigkeit als Chef der »Rheinischen Zeitung« - der noch den Einsatz von Kanonen für gerechtfertigt hält, sollte versucht werden, »kommunistische Ideen in ihrer jetzigen Gestalt« zu verwirklichen - bis zum Spätwerk von Marx. Dazwischen Hermann Klenners »Annäherung« an die Rechtsauffassung des studierten Juristen aus Trier, die ökologischen Perspektiven, ein Artikel über »fiktives Kapital« von Stefano Breda und vieles mehr.
Alles sehr bereichernd, mit ungewohnten Aufschlüssen. Reflexionen, wie man sie gern zur Kenntnis nimmt. Was einem in der Gesamtschau durch den Kopf geht: Wie Marx entsprechend des Wandels gesellschaftlicher Bedingungen seine Position immer wieder der Wirklichkeit (nicht den Umständen!) angepasst hat - eine Tugend, die der heutigen Linken weitgehend abhanden gekommen ist; sie versteckt sich gern hinter Dogmen.
Sozusagen das Surplus des Bandes ist die Frage, welche und wie andere kritische Theorien Grundsätze oder Aspekte der Marxschen Philosophie aufgegriffen haben. Oder wie sie - oft unbemerkt - heute fortwirken. Dass Marx die Globalisierung und deren Konsequenzen für Politik und Wirtschaft frühzeitig vorausgesagt hat, wird allgemein anerkannt. Und die zunehmende soziale Ungleichheit unter Bedingungen der Globalisierung hat auch die Klassentheorie wieder ins Blickfeld der liberalen Soziologie gerückt.
Der (nie systematisch ausgearbeiteten) Klassentheorie von Marx haftet der Vorwurf an, dass sie zu sehr auf die Ökonomie fixiert und deswegen unbrauchbar sei. John Lütten, dem »Projekt Klassenanalyse« der Universität Jena verbunden, untersucht, inwieweit der Vorwurf berechtigt oder nur vorgeschoben ist. Er vermeidet erfreulicherweise die Unsitte, mit Begriffen zu argumentieren, ohne sie zu definieren. So beleuchtet er zunächst, was Marx unter »Klassen« verstand: soziale Strukturen in all ihren Facetten, die auf Produktions-, Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen basieren.
Die damit verbundenen Interessen, »unabhängig davon, ob die einzelnen Mitglieder einer sozialen Klasse diese auch subjektiv als solche wahr- und annehmen«, werden von vielfältigen Faktoren des sogenannten Überbaus beeinflusst. Es war Friedrich Engels, der hier auf Wechselwirkungen hingewiesen hat. Man kann Marx vorhalten, diesen zu wenig nachgegangen zu sein; aber er hatte ja genug damit zu tun, »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen«. Produktion und Reproduktion sei zwar »in letzter Instanz«, so Engels, das bestimmende Moment der Geschichte des wirklichen Lebens. Aber: »Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.«
Im Folgenden befasst sich Lütten mit »praxeologischen« Ansätzen der Klassenanalyse, etwa mit dem britischen Historiker und Friedensaktivisten Edward E. Thompson, für den nicht sozialökonomische Strukturen die Gesellschaft spalten, sondern gemeinsame Erfahrungen zu einer kollektiven Identität führen.
Das erinnert an Max Stirners Aufklärungskonzept der alltagssprachlichen Vertrautheit, das seinerzeit wenig Resonanz fand, und an Antonio Negris verschwommene »Multitude« (worauf Lütten nicht eingeht). Dabei bleibt offen, welche Erfahrungen beziehungsweise Interessen denn nun und wie genau unterschiedliche Milieus separieren.
In der bundesdeutschen Sozialgeschichte haben Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler und Andreas Reckwitz Elemente der »praxeologischen« Klassentheorie aufgegriffen, wonach kulturelle Muster der Lebensführung für die Konstituierung von Klassen maßgebend sein sollen. Der 2002 verstorbene französische Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu beispielsweise definierte Klassen als »Ensembles von Akteuren« mit ähnlichem Lebensstil, Geschmacksurteilen sowie Formen der Aneignung kultureller und anderer Güter.
Für Lütten birgt der Fundus marxistischer beziehungsweise marxistisch inspirierter Klassenanalyse auch hinsichtlich neuerer gesellschaftlicher Konstellationen das überzeugendste Instrumentarium, die soziale Differenzierung und den konkreten Inhalt ihrer Konfliktpotenziale zu verstehen.
Der Wiener Soziologe Helmut Dahmer wiederum geht den Spuren nach, die Sigmund Freuds Psychoanalyse unter sozialistisch orientierten Psychologen und Philosophen hinterlassen hat, und umgekehrt, wie der Historische Materialismus der Sozialpsychologie ein Fundament gab. Dass Psychoanalyse allein als Therapie betrachtet wurde, war ohnehin ein durch politischen Druck und opportunistisches Verhalten in Mode gekommenes Missverständnis. Dahmer räumt gehörig mit dieser »Reduktion« des Freudschen Anliegens auf, die »Schicksalsfrage« der Menschen zu klären, »in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens Herr zu werden«.
Auf der materialistischen Geschichtsauffassung basierend, widme sich die Psychoanalyse der »Historie des einzelnen«, schrieb Otto Fenichel 1934. Es wurde versucht, soziale »Mentalitäten« durch empirische Studien zu erkennen. Treibender Impuls war, das »deutsche Rätsel« des aufkommenden Faschismus als Massenbewegung aufzuklären. Unabhängig voneinander sahen linke Freudianer einen Grund für den international grassierenden Faschismus in der zunehmenden Herausbildung »autoritärer Charakterstrukturen« - ein Motiv, das vom Frankfurter Institut für Sozialforschung aufgegriffen wurde und angesichts aktueller rechtsradikaler Tendenzen wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Die »Freudo-Marxisten« mussten jedoch scheitern, weil sie entweder Psychoanalyse und Marxismus vereinen wollten oder der Freudschen Kulturpsychologie lediglich einen Hilfsdienst für die historisch-materialistische Weltanschauung zugestanden.
Die Theoretiker der Frankfurter Schule gingen einen anderen Weg. Psychoanalyse und politische Ökonomie sollen sich ineinander spiegeln. Auf dieser Grundlage setzt die empirische Mentalitätsforschung von Theodor W. Adorno an. Sie vertiefte das, was bei Marx, der sich zu wenig um die Subjektivität gekümmert habe, als Desiderat empfunden wurde.
Dabei geht es um die Frage, warum sich Führer und Massen, Demagogen und ihre Gefolgschaft so verhalten, wie sie sich verhalten. Wie bilden sich »Sozialcharaktere« heraus, die oft gegen ihre Interessen handeln? Auch das, was man als Klassenbewusstsein verstehen kann - und dessen Zuwiderhandlung. Wieso beispielsweise stimmen Angestellte des US-Konzerns Amazon gegen die Etablierung einer Gewerkschaftsvertretung? Was motiviert Menschen, bestimmte Parteien und Programme zu wählen?
Die zumeist an Marx orientierte analytische Sozialpsychologie hat seit dem Krisenparcours 2007/2008 enormen Auftrieb erfahren. Dahmer versäumt nicht, auf gruppenspezifische Auswirkungen der neuartigen »autoritären« und bürokratisierten Herrschaftsformen hinzuweisen, die zur Anpassung zwingen, wodurch sich Klassenstrukturen verwischen. Was der Autor empfiehlt, um die »Vorurteilsbefangenen« auf den rechten Weg zu bringen, nämlich die konventionellen Methoden der Aufklärung, bleibt allerdings (wie bei Adorno) schwach.
Der dritte Teil des Bandes befasst sich mit der Analyse verschiedener Aspekte der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft. Florian Butollo und Patricia de Paiva Lareiro vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung beispielsweise begründen, von Marx ausgehend, ihre Zweifel, dass die zwar alle Verhältnisse durchdringende Digitalisierung einen Epochenumbruch der Produktivkraftentwicklung oder gar, aus sich heraus, soziale Verbesserungen brächten.
Die Göttinger Soziologin Nicole Mayer-Ahuja geht sodann der Frage nach, welchen Beitrag die Überlegungen von Marx zur Arbeitszeit für die Analyse heutiger Standards und für anstehende Auseinandersetzungen haben. Und der Frankfurter Sozialpolitiker Jens Wissler untersucht die Eigenständigkeit staatlicher Prozesse im Rahmen der europäischen Integration sowie die Probleme, die sich daraus für eine linke Strategie ergeben.
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30 exzellente Essays, die ein breites Spektrum kritischer Aneignung des Marxschen Werkes spiegeln. Dieser Band ragt im Nachhall aus der Flut der rund um den 200. Geburtstag von Karl Marx erschienenen Publikationen heraus.
Thomas Sablowski/ Judith Dellheim/ Alex Demirović/ Katharina Pühl/ Ingar Solty (Hg.): Auf den Schultern von Karl Marx. Westfälisches Dampfboot, 552 S., br., 40 €.
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