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Von Feigen und Flüchtlingen
Der Erinnerungsreigen zu 60 Jahre Berliner Mauer hat begonnen - und eine überraschende Debatte eröffnet
seit vergangenen Freitag sind das Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer sowie die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde wieder fürs Publikum geöffnet, natürlich mit den gebotenen Vorsichtsmaßnahmen. Und digital fanden bereits in den letzten Tagen die ersten Diskussionsveranstaltungen zu jenem Ereignis statt, das eine Zäsur nicht nur deutscher Geschichte markiert. Vor 60 Jahren, am 13. August 1961, schloss sich mit der Errichtung des «antifaschistischen Schutzwalls», wie die offizielle Interpretation seitens der SED lautete, quer durch Berlin nicht nur das «letzte Schlupfloch in den Westen», sondern senkte sich zugleich der «Eiserne Vorhang», von dem der britische Premier Winston Churchill bereits am 5. März 1946 in Fulton, US-Bundesstaat Missouri, in seiner den Kalten Krieg einläutenden Rede sprach, endgültig über Ost und West.
Einem eifrigen Primaner gleich startete als erste Institution den diesjährigen Veranstaltungsreigen zum Jubiläum, das zum Jubilieren keinen Anlass gibt, die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED. Per Livestream diskutierten vergangene Woche unter dem Motto «60 Jahre Mauerbau - geteilte(s) Leben» die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, der Theologe Martin-Michael Passauer sowie der ehemalige Fluchthelfer Klaus-M. von Keussler darüber, was die Grenzschließung seinerzeit für das Leben der Menschen dies- und jenseits der Mauer, für Familien- und Freundeskreis wie auch hinsichtlich beruflicher Perspektiven und der Bildung von Überzeugungen bedeutet habe. Dies unterfüttert mit persönlichen Erinnerungen.
Lange-Müller, in einer DDR-Funktionärsfamilie aufgewachsen, war zehn Jahre alt, befand sich mit ihren Eltern gerade zum Urlaub in Bulgarien und saß an eben jenem 13. August 1961 auf einem Feigenbaum. Sie naschte von den exotischen Früchten, wobei ihr manche hinunterfiel und eine Herde Schafe anlockte. «Immer mehr, sie blökten, ich traute mich nicht vom Baum.» Irgendwann brachte sie dann doch den Mut auf, kehrte zum Hotel zurück, wo «einige Funktionäre schon feierten, darunter meine Eltern», und stark angetrunken gelallt hätten: ›Nun können uns die Bonner Ultras nichts mehr anhaben.‹« Zurück aus den Sommerferien musste sie feststellen, dass sich ihre Klasse dezimiert hatte, auch ihre beste Freundin nicht mehr da war. Passauer weilte mit seinen Eltern zum Urlaub auf Rügen und vernahm aus dem Autoradio eines alten Moskwitschs das »Unglaubliche, im wahrsten Sinne des Wortes«. Seine Mutter meinte: »Ach Michelchen, das wird schon alles werden, die können doch nicht das ganze Land abriegeln.« Keussler wiederum, damals Student in Westberlin, hatte an jenem Sonntagmorgen RIAS gehört und sich spontan mit Freunden an die Grenze begeben, wo »Betriebskampfgruppen der DDR die ersten Stacheldrahtrollen ausrollten«. Wenig später sei der Regierende Bürgermeister von Westberlin, der Sozialdemokrat Willy Brandt, erschienen und habe sich »in seiner markigen Art geäußert«.
Keussler war Anfang der 60er Jahre am Bau mehrerer Fluchttunnel zwischen Ost- und Westberlin beteiligt, darunter den mehr oder weniger berühmten Tunnel 57, der von einer Bäckerei in der Bernauer Straße zehn Meter tief und 145 Meter weit in den Westteil der Stadt reichte und 57 Menschen zur Flucht verhalf. Passauer, schon zu DDR-Zeiten Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, wurde im November ’89, als die Mauer zum Einsturz gebracht wurde, Mitglied der Kommission zur Untersuchung der Übergriffe der Stasi auf Demonstranten vor der Ostberliner Gethsemanekirche am und um den 7. Oktober herum, dem 40. Jahrestag der DDR. Langen-Müller fand nach Literaturstudium in Leipzig und einjährigem Studienaufenthalt in der Volksrepublik Mongolei eine Anstellung als Lektorin, verließ jedoch alsbald, 1984, die DDR gen Westen.
Einen weiteren Bogen, zeitlich wie territorial, hatte fünf Tage zuvor ein wissenschaftlicher Disput über »Die Grenzen der Grenzenlosigkeit« gespannt, ebenfalls digital und gleichfalls auf dem YouTube-Kanal der Bundesstiftung Aufarbeitung nacherlebbar. Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, aufgewachsen im Rostocker Stadtteil »Lütten Klein«, erinnerte an die Euphorie 1989/90, man breche nach dem Ende der Blockkonfrontation nunmehr in eine offenere Welt ohne Mauern auf. Das Gegenteil sei eingetreten. Wurden zwischen 1950 und 1989 weltweit zwölf Mauern errichtet worden, so seien heute rund um den Globus 77 zu registrieren, berichtete Mau. Europa habe keinen Grund, »die Nase zu rümpfen« in Hinblick auf die martialische Mauer der USA zu Mexiko. Der Soziologe verwies auf die Tausenden verzweifelten Menschen, die just von Marokko zur spanischen Enklave Ceuta flüchteten. EU-Politiker reagierten entrüstet mit Ermahnungen an die Regierung in Rabat, die von ihr erwartete Grenzwächteraufgabe nicht ernst zu nehmen. Die Abschottung Europas vor Flüchtlingen ähnele der Aus- und Einschlussfunktion der Berliner Mauer dereinst. Schockierend für Mau vor allem, dass gerade die Deutschen trotz eigener unerquicklicher Erfahrung von außereuropäischen Staaten ein Einsperren der eigenen Bevölkerung fordern.
Gerhard Sälter von der Stiftung Berliner Mauer stimmte dem zu. Der vor 60 Jahren errichtete Betonwall durch Berlin sei jedoch nicht nur ein »Fluchtverhinderungsinstrument« der SED-Führung gewesen, sondern auch eine Antwort der DDR auf den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, Betonung eigener staatlicher Souveränität. Sälter gestand, es beschleiche ihn jetzt schon ob des bevorstehenden 60. Jahrestages ein »Unwohlsein«: »Man weiß, was für Reden wieder gehalten werden.« Der Historiker warnte vor »Verzerrungen« und pauschalen Narrativen. Er plädierte für historische Einordnung der DDR samt ihrer Vor- und Nachgeschichte. »Dann ist es auch nicht so einfach mit eindeutigen Schuldzuweisungen.«
Es bleibt abzuwarten, was zum Thema in den nächsten Wochen auch von anderer Seite dargeboten wird. Das unbarmherzige Grenzregime der Europäischen Union wird jedenfalls nicht mehr ignoriert werden können.
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