Der permanente Pflegenotstand

Wie die Krise des Kapitalismus und die staatlichen Corona-Maßnahmen zusammenhängen - eine marxistische und feministische Kritik

  • Tove Soiland
  • Lesedauer: 11 Min.

Gibt es die Möglichkeit, Kritik an den staatlichen Corona-Maßnahmen zu üben, ohne mit der rechten Argumentation in Gleichklang zu gelangen? Definitiv. Es gibt einen zentralen Unterschied in der Argumentation. Uns geht es um den massiven Ausbau des Gesundheitswesens und des gesamten Care-Sektors - und zwar zu Lasten der Kapitalakkumulation. Das fordern Rechte nicht. Die Rechte spricht von Freiheit. Und sie verbindet das mit einer Abwehr von etwas, das sie missverständlich als einen Ausbau des Sozialstaates im Zuge der Corona-Maßnahmen wahrnimmt. Nun sollte man sicher nicht gegen Freiheit sein. Aber so sehr ich die Freiheit auch liebe, so wenig bekommt eine abstrakte Einforderung von Freiheit das Problem in den Blick, vor dem wir gegenwärtig stehen.

Ich verorte die gegenwärtige Krise innerhalb der globalen Probleme der Kapitalakkumulation. Vor diesem Hintergrund versuche ich, sie zu verstehen oder zumindest zu interpretieren. Hier hilft der Rekurs auf Freiheit nicht weiter. Aber auch dem linken Narrativ, dass der Staat nun endlich für die Bevölkerung und gegen die Wirtschaft Partei ergreife, ist zu widersprechen. Es geht in der gegenwärtigen Krise gerade um einen Kollaps dieser Unterscheidung von staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen. Die Trennung der beiden Sphären verschwindet und damit entstehen neue Formen der »Menschenregierungskünste«, wie Michel Foucault das einmal genannt hat, von denen wir erst die Konturen erkennen können. Diese neue Menschenregierung steht im Interesse des Kapitals. Der Kapitalismus scheint in eine neue historische Formation einzutreten, die Regulationsschule würde sagen: in ein neues Akkumulationsregime.

Die Autorin
Tove Soiland ist Philosophin und Historikerin. Sie promovierte 2008 zu Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Innsbruck, sie hatte an zahlreichen Universitäten Lehraufträge inne und bietet bei der Schweizer Gewerkschaft VPOD seit Jahren Seminare für Frauen zu politischer und feministischer Theorie an. Ihre heutigen Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Feministische Theorie, Psychoanalyse und Marxismus. 2003 initiierte sie den »Gender-Streit«, eine Kontroverse um die theoretischen Grundlagen des Gender-Begriffs. 2016 erhielt sie für ihr feministisches Engagement den Ida-Somazzi-Preis. Ihre politische Bildung erhielt sie in der Frauenbewegung im Zürich der 1980er Jahre.

Damit ist auch eine neue Regulationsweise verbunden: die Lockdowns, also die staatliche Einschränkung der sozialen Kontakte, die Retraditionalisierung von Care-Arbeit, die Überlastung im Homeoffice, worin der Staat erneut von seiner Care-Verpflichtung entbunden wird, die Verschränkung von Digitalisierung, Arbeit und Konsum, die Digitalisierung der Bildung, die Entpolitisierung des öffentlichen Lebens und die Immunisierung gegen politische Kritik. Es ist ein genereller Angriff auf die Dimension des Politischen, den ich auf die Erfordernisse der Kapitalakkumulation zurückführe. Die Maßnahmen sind nicht nur mit den Erfordernissen des Kapitalismus kompatibel, sondern sie entsprechen einer dringlichen inneren Notwendigkeit der Kapitalakkumulation. Es ist daher naiv, wenn Teile der Linken glauben, die staatlichen Lockdown-Maßnahmen würden nun endlich die Interessen der Bevölkerung über die Interessen der Wirtschaft stellen.

Feministische Kritik

Eine feministische Kritik muss sich zunächst darüber klar werden, was zurzeit passiert - und warum. In meinem Verständnis kann es nicht nur darum gehen, nach den Auswirkungen der Krise auf Frauen zu fragen. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass Finanz- und Wirtschaftskrisen, überhaupt jede Krise bisher immer zu Lasten von Frauen gegangen sind. Wirtschaftskrisen betreffen immer am stärksten den Bereich der Reproduktion. Da Frauen 80 Prozent ihrer Lebensarbeitszeit mit bezahlter und unbezahlter Reproduktionsarbeit verbringen, trifft eine Wirtschaftskrise folglich auch sie am stärksten. Es ist wichtig, dies immer wieder zu betonen, es reicht aber nicht.

Unter feministischer Kritik verstehe ich deshalb noch mehr: Wir müssen uns die Definitionsmacht darüber zurückerobern, was diese Krise ist. Und zwar auch gemeinsam, ich tue das in dem Kollektiv Feministischer Lookdown. Die meisten Frauen unseres Kollektivs arbeiten im Care-Sektor. Wir haben uns vor über einem Jahr zusammengefunden - im ersten Lockdown. Uns wurde rasch klar: Würde es dem Staat wirklich um die Gesundheit der Bevölkerung gehen, müsste er ins Gesundheitswesen investieren. Genau dies tat er nicht, sondern trieb im Gegenteil auch nach Ausbruch der Corona-Krise die Sparmaßnahmen weiter voran; und das weckte unser Misstrauen. Ein Staat, der in den letzten Jahrzehnten systematisch das Gesundheitswesen mit seinen Restrukturierungen an die Wand gefahren und ausbluten lassen hat, verdient nicht unser Vertrauen. Und erst recht nicht mit der Behauptung, dass es ihm um den Schutz des Lebens ginge. Wie kam es dazu, dass viele Linke so staatsgläubig wurden und plötzlich Vertrauen in diesen Staat hatten? Wir kamen im Gegenteil zum Schluss, dass die Bevölkerung mit den Lockdowns den Preis für die jahrzehntelange verfehlte Gesundheitspolitik jener Staaten zu tragen hat.

Lockdowns sind kein Schutz. Sie sind extrem unsozial. Niemand interessiert sich für die Folgeschäden der Isolierung und der Toten, die diese mit sich bringen. Warum zählen diese Toten nicht? Zudem gibt es Tote weltweit aufgrund von anderen Ursachen und Krankheiten, gegen die man auch etwas machen könnte. Aber dies scheint egal. Warum ist nur noch Corona wichtig? Warum dieser ausschließliche Fokus? Es war und ist vermutlich das, was uns am meisten misstrauisch machte. Das unglaublich Zerstörerische der Lockdowns wurde also nicht diskutiert. Stattdessen brach sich eine Art Linkspopulismus Bahn: Nun würde der Staat endlich »für das Leben« und »gegen die Wirtschaft« Partei ergreifen.

Wir kamen zu der Ansicht, und sind es bis heute, dass ein gut ausgebautes Gesundheitssystem einen Lockdown nicht nötig hätte werden lassen. Die Bevölkerung musste mit unglaublichen Eingriffen etwas auffangen, das die staatliche Gesundheitspolitik und die Ökonomisierung im Dienste des Kapitals verursacht hatte. Das scheint uns der eigentliche Skandal. Und wir verstehen bis heute nicht, warum das von vielen Linken und von feministischer Seite nicht aufgegriffen wurde. Es ist die zuvor gemachte Gesundheitspolitik, die die meisten Toten verursacht hat, nicht das Virus. Und daher ist die Lockdown-Politik, die weiterhin mit den dreistesten Sparmaßnahmen im ganzen Care-Sektor einhergeht, abzulehnen. Es ist nicht das Virus, sondern der permanente Pflegenotstand, der tötet.

Verwertungskrise des Kapitals

Was aber hat der Pflegenotstand mit der Verwertungskrise des Kapitalismus zu tun? Wenn ich dazu auf Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie zurückgreife, so jedoch nur mit einer entscheidenden Ergänzung: Es gibt nicht nur - und heute vielleicht so überhaupt nicht mehr - den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Denn es gibt neben der »verborgenen Stätte der Produktion«, die Marx vor Augen stand, noch eine zweite, wohl weitaus verborgenere Stätte, die Marx vergessen hat: die Sphäre der Reproduktion. Arbeiten also, die in privaten Haushalten, aber auch in bezahlter Form in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Kindergärten, Krippen und Tageshorte verrichtet werden. Sie sind die - verschwiegene und unsichtbare - Voraussetzung aller Lohnarbeit. Mit andern Worten, es gibt einen zweiten, meines Erachtens heute noch größeren Widerspruch: den zwischen Produktion und Reproduktion. Dem Kapital steht heute nicht so sehr die Lohnarbeit, sondern die Subsistenzproduktion entgegen. Von dieser lebt der Kapitalismus, aber er zehrt sie in der Tendenz auch auf.

Wie die Philosophin Nancy Fraser in diesem Zusammenhang festgestellt, ist dieser Widerspruch zwar konstitutiv für die kapitalistische Produktionsweise, aber er erfährt in jeder historischen Konstellation eine je andere Ausprägung. Genau dieses Spannungsverhältnis und die ihm inhärente Dynamik wurde bisher von marxistischer Seite kaum theoretisiert. Wenn sich, um es in den Worten der Regulationsschule zu sagen, die verschiedenen Epochen der kapitalistischen Produktion durch ihre jeweiligen Akkumulationsregime unterscheiden, so muss dies folglich durch die Feststellung ergänzt werden, dass jedes Akkumulationsregime auch immer mit einem je eigenen Reproduktionsregime einhergeht. Und in diesem Regime herrschen andere Regeln und eine eigene Formen der Ausbeutung. Es gibt deshalb neben der Mehrwertakkumulation noch eine andere Form der Akkumulation, die David Harvey als »Akkumulation durch Enteignung« bezeichnet hat, eine moderne Form »primitiver Akkumulation« gewissermaßen, die heute für die Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktionsweisen vermutlich bedeutsamer ist als die Mehrwertakkumulation. Diese Verschiebung im Akkumulationsregime ist für das Verständnis der gegenwärtigen Krise zentral, denn diese muss als eine Intensivierung dieser Form von primitiver Akkumulation verstanden werden. Dazu bedarf es eines kurzen Rückblicks.

Neue Landnahmen im Neoliberalismus

Historisch gesehen hat der Kapitalismus seine Profite mit den Mitteln der Produktivitätssteigerung erzielt und dadurch tatsächlich den Lebensstandard für einen Großteil der Bevölkerung angehoben. Produktivitätssteigerung heißt im Wesentlichen, dass mittels technischer Innovationen oder der Rationalisierung von Arbeitsabläufen die Produktion der Stückzahl pro Zeiteinheit erhöht wird. Doch diese historische Gleichung ist mit der Krise des Fordismus Mitte der 1970er Jahre zusammengebrochen. Ein Hauptgrund dafür waren die seit den 1960er Jahren sich verlangsamenden Produktivitätszuwächse und in der Folge das Sinken der Profitraten.

Was wir heute als Neoliberalismus bezeichnen, war eine Reaktion auf diese Krise. Es ist der Versuch, die Produktivitätszuwächse und damit die Profite mit andern Mitteln wieder herzustellen. Die Mittel dazu sind bekannt: Ein generelles Absenken des Lohnniveaus, die Brechung der Macht der Gewerkschaften und im Gegenzug dazu das Angebot neuer Formen der Arbeitsorganisation, die weniger auf Hierarchie denn auf Selbstorganisation beruhen. Für unseren Zusammenhang zentral ist, dass damit auch ein Abrücken vom Modell des männlichen Ernährerlohns verbunden war - was umgekehrt erforderte, die Arbeiten der ehemaligen »Hausfrau« folglich lohnförmig zu verrichten.

Mit diesen Restrukturierungen ging deshalb eine massive Ausweitung des bezahlten Care-Sektors einher. Mit dieser Ausweitung jedoch wächst jener Anteil an der Lohnarbeit laufend, der für das Bestreben der Kapitaleigner, Profite mittels Produktivitätssteigerung zu generieren, wenig interessant ist, da Care-Arbeit nur wenig Mög

lichkeiten zur Produktivitätssteigerung hat. Dadurch verschärft sich aber genau jenes Problem der sinkenden Produktivitätsraten gesamtwirtschaftlich, das am Ursprung der Krise des Fordismus stand. Die Politikwissenschaftlerin Silke Chorus spricht deshalb in diesem Zusammenhang von einem »doppelten Produktivitätsdilemma«, das durch die neoliberalen Reformen eher angeheizt als »gelöst« wurde.

Woran es uns heute hierzulande fehlt, sind nicht Handys und Kühlschränke, die mit den Mitteln der Produktivitätssteigerung tatsächlich billiger hergestellt werden können. Woran es uns fehlt, ist die Zeit, die Großmutter zu besuchen, der Tante bei der Bezahlung der Rechnungen per E-Banking zu helfen oder gar umfassend für ihre Pflege aufzukommen, wenn sie diese braucht. Aber es fehlt auch das Geld, sich diese Dienste am Markt zu kaufen, wenn wir nicht länger über die Zeit verfügen, dies selbst zu tun. Der Mangel liegt heute also, anders als in der Zeit des Fordismus, nicht mehr im Bereich der Güter des täglichen Bedarfs, sondern im Bereich jener Dienstleistungen, die mit den Mitteln der Produktivitätssteigerung nur sehr bedingt profitabler oder billiger gemacht werden können. Dies führt zu ganz neuen Verteilungskämpfen und, wie Silvia Federici zu Recht feststellt, auch zu neuen Klassenverhältnissen.

So betrachtet, sind wir heute in einer für die kapitalistische Produktionsweise historisch völlig neuen Situation: Der Anteil jener Arbeiten, mittels derer das Kapital gute Profite erzielen kann, schrumpft laufend im Verhältnis zum jenem Teil, in dem dies nicht wirklich funktioniert. Feministische Ökonominnen berechnen, dass dieser Anteil heute in den ökonomisch entwickelten westlichen Gesellschaften rund 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht. Neoliberale Restrukturierungen müssen im Wesentlichen als Antworten auf dieses Produktivitätsdilemma verstanden werden. Es ist somit kein Zufall, dass neoliberale Programme heute vorrangig in diesem Bereich und damit im Bereich personenbezogener Dienstleistungen intervenieren: Der gesamte Care-Sektor ist zu einem ökonomisch hochbrisanten Schlachtfeld geworden, weil er am zentralsten die privatwirtschaftlichen Profitinteressen tangiert.

An diesem Punkt kommt das New Public Management ins Spiel, die Verwaltungsmodernisierung durch Stärkung der Marktorientierung und Einführung von Wettbewerbselementen, also das Prinzip der Konkurrenz im öffentlichen Sektor. Es geht nicht nur darum, dass Krankenhäuser privatisiert werden, denn es spielt keine Rolle, ob privatisiert oder öffentlich: Das Wettbewerbsprinzip tut überall dasselbe und alle Einrichtungen sind ihm gleichermaßen unterworfen. Es ist gerade das Wesen des New Public Management, dass auch öffentliche Einrichtungen so tun müssen, als wenn sie in einem privatwirtschaftlichen Wettbewerb auf einem Markt miteinander konkurrierten. Das New Public Management versucht, auf das grundlegende Produktivitätsdilemma zu reagieren, kann es aber strukturell nicht lösen, sondern verschärft es sogar noch.

Technische Lösungen für den Profit

Wenn sich der Care-Sektor aber trotz der Bemühungen des New Public Management kaum produktiver gestalten lässt, was bleibt dann noch? Zurzeit sehen wir einen weltweiten Versuch, das Arbeitsintensive an Care in einen technocratic solutionism zu überführen, also technische Lösung für dieses Dilemma zu finden. Der Grund ist, dass zwar mit Pflegeheimen und Krankenhäusern nicht so viel Profit gemacht werden kann. Mit »technischen Lösungen« aber schon: Das sind zum Beispiel Innovationen in der Pharmaindustrie, also die Ersetzung der zeitintensiven Arbeit durch technische oder pharmakologische Produkte, mit denen man Gewinne machen kann. Daran arbeiten eine Menge von staatlichen und vor allem parastaatlichen Organisationen, über die und deren Agenda wir gar nicht so viel wissen; ein Konglomerat, dass Vandana Shiva einmal als eine »unheilige Allianz zwischen big capital, Wissenschaft, technologischen Institutionen und Staaten« bezeichnet hat.

Bill Gates, dessen Stiftung im Bereich des Umbaus der Gesundheitsvorsorge sehr aktiv ist, hat einmal gesagt, dass jeder Dollar, der in die öffentliche Gesundheitsvorsorge investiert werde, zum Fenster herausgeworfenes Geld sei. Es brauche keine öffentliche Gesundheitseinrichtungen, sondern nur Impfungen. Es geht also auch hier um den Versuch, anstelle der arbeitsintensiven Care-Dienstleistungen technologische Mittel einzusetzen, weil diese dem Kapital nicht nur keine Kosten verursachen, sondern anders als Care-Dienstleistungen Quelle neuer Profitmöglichkeiten sein können. Maßnahmen wie die Lockdowns, die wir erlebt haben und erleben, dienen diesem neuen Reproduktionsregime und verhelfen ihm zum Durchbruch. Eine marxistische und feministische Linke hätte sich zuerst über diese Situation aufzuklären.

Ich danke meinen Mitstreiterinnen vom Kollektiv Feministischer Lookdown, in dessen Kontext diese Überlegungen entstanden sind: www.feministischerlookdown.org. Der vorliegende Text ist eine gekürzte und bearbeitete Fassung des Vortrags »Care-Notstand war schon vor Corona: Eine Kritik an der offiziellen Corona-Politik«, den Tove Soiland an der Fernuniversität Hagen gehalten hat.

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