Orte der Entstehung und der Vernichtung
Berlinale-Forum: In »From Where They Stood« rekonstruiert Christophe Cognet Grauen der Konzentrationslager
Christophe Cognet begibt sich in die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager und bringt dem Publikum das Grauen nah. Selten hat ein Film die Gewalt in den Lagern so greifbar gemacht wie Cognets Dokumentarfilm »From Where They Stood« (französischer Originaltitel »À pas aveugles«). »In Dachau, Buchenwald, Mittelbau-Dora, Ravensbrück und Auschwitz-Birkenau gelang es einigen Gefangenen, unautorisierte Fotografien zu machen«, heißt es zu Beginn des Films und »da sie so viel dafür getan haben, um uns diese Bilder zukommen zu lassen, haben wir die Pflicht, sie uns anzusehen«.
Zunächst macht sich Cognet auf die Suche nach diesen sehr seltenen Aufnahmen aus dem Alltag in den Konzentra᠆tionslagern. Unter anderem wird er im Prager Nationalarchiv fündig. Einige der Negative vergrößert er, klemmt sie zwischen Glasplatten und besucht damit die Orte ihrer Entstehung. Gemeinsam mit ortskundigen Historikern versucht er, die Standorte der Fotografen und Fotografinnen exakt zu bestimmen, um schließlich die heutige Wirklichkeit durch die Negative der Vergangenheit scheinen zu lassen.
So entstehen mittels der bunten Welt von heute kolorierte Bilder der Vergangenheit. In ihrer extremen Gegensätzlichkeit jagen sie dem Betrachter manchesmal einen Schauer über den Rücken, etwa, wenn durch schwarze KZ-Häftlingssilhuoetten Touristen-Gruppen in kurzen Hosen spazieren.
Es entsteht ein fast zweistündiger Film, bei dem wir hauptsächlich Historikern und dem Filmemacher bei der Arbeit zusehen, was aber nie langweilig wird, auch wenn man diesen Film um die ein oder andere doppelte Übersetzung der beteiligten Dolmetscher hätte kürzen können, Untertitel hätten ausgereicht.
Cognet, der Filmmusik und Effekte auf ein Minimum zurückfährt, notwendige Zusatzinformationen auf schlichten Schrifteinblendungen mitteilt und sich ganz auf seine Idee und die Geschehnisse verlässt, die die Bilder und seine Recherchen rekonstruieren, geht den Geschichten der fotografierenden KZ-Häftlinge mit Empathie und Akribie nach und macht sie so zu den Helden seines Films.
Wir sehen Cognet bei den Versuchen, Zeitpunkt und Ort der Entstehung der Fotos zu ermitteln, bei Ortsbegehungen und dabei, wie er, eine der alten klobigen Kameras in Zeitungspapier unter dem Arm haltend, nachzustellen versucht, wie es die Häftlinge schaffen konnten, unbeobachtet zu fotografieren. Er kommt herzzerreißenden Geschichten auf die Spur, zeigt etwa Fotos von Frauen, die sich versteckt gegenseitig porträtierten und die Wunden fotografierten, die ihnen offenbar zuvor im Zuge von Menschenversuchen zugefügt worden waren.
Schließlich sehen wir mit den Augen von Alberto Errara, jenem berühmten griechischen KZ-Häftling, dem es gelungen war, Fotos der Leichenbeseitigung durch sogenannte Sonderkommandos in Auschwitz zu machen und aus dem KZ zu schmuggeln, wahrscheinlich, wie es im Film heißt, aus der Gaskammer heraus in die Gegenwart. (Dass er »vormals Kapitän der griechischen Armee« und »ein wichtiger Teil des Widerstandes im Sonderkommando« war, wie es im Film heißt, ist übrigens keineswegs erwiesen, wie der Historiker Andreas Kilian herausgefunden hat.)
»From Where They Stood« ist ein bedächtiger, langsamer Film, der die Bilder, die er produziert, wirken lassen will und muss, der den Zuschauer mit dem schwarz umrissenen Grauen in bunter Umgebung alleine und in Ruhe lässt - um ihn kurz darauf behutsam zum nächsten Schauplatz des Horrors zu geleiten. Cognet macht das so einfühlsam wie möglich, ohne irgendetwas zu beschönigen oder zurückzuhalten.
Diese Strategie, das Schlimmste bildlich gewissermaßen zu aktualisieren, in einen gegenwärtigen Kontext zu rücken, macht die Katastrophe auf den Bildern keineswegs erträglicher, vielmehr erinnert die in die Gegenwart schimmernde Vergangenheit daran, dass angesichts von über 20 Prozent Stimmenanteil für die AfD in einigen deutschen Bundesländern der Nie-wieder-Alarm längst keine Übung mehr ist.
»From Where They Stood«,. Regie: Christophe Cognet. Frankreich/Deutschland 2021. Termine: 14.6., 21.30 Uhr Open Air Kino HKW, 17.6., 21.45 Uhr Freiluftkino Friedrichshain, 19.6., 22 Uhr Freiluftkino Museumsinsel
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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