- Kultur
- Eine Schule in Cerro Hueso
In einer Welt ohne Worte
Berlinale Generation Kplus: »Eine Schule in Cerro Hueso« ist ein leiser Film über unerhörte Kleinigkeiten
Ihre Haut wirkt dünn wie Papier, die Haare lang und weich, das Gesicht nach außen verschlossen, aber man sieht: Innen ist Leben und Neugierde. Alles an Ema (Clementina Folmer) scheint zerbrechlich, fragil und abgewandt. Sie spricht nicht, Kommunikation funktioniert anders. Ema ertastet ihre Welt, malt Umrisse von Malereien oder Tieren hinter Glasscheiben nach. Die Fingernägel schneidet ihr ihre Mutter im Schlaf, weil sie das Prozedere wohl sonst nicht zulässt und sich wehrt.
Ema hat eine Autismus-Spektrum-Störung und soll bald in die erste Klasse kommen. Ihre Eltern bewerben sich bei 17 Schulen, bis auf eine lehnen alle sie ab oder antworten erst gar nicht. Die Familie zieht aus einem wohlhabenden Stadtteil im argentinischen Santa Fe in ein kleines Dorf, wo die Schule liegt, die Ema aufnehmen will. Die neue Umgebung ist für alle gewöhnungsbedürftig. Das Hausdach ist undicht, es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser, aber für ihre Tochter ist dieser Ort die einzige Chance. Am ersten Schultag sitzt Ema abwesend und abseits der anderen Kinder auf einem Tisch, sie spielt mit einem Plastikpferd. Obwohl Ema kein Wort spricht, sich komisch verhält, sind die Kinder ihr gegenüber nicht skeptisch oder gar feindselig.
Es gibt gar kein ausgeklügeltes pädagogisches Konzept, mit dem die Schule auf Ema eingeht, das einzige, woran sich alle halten, ist, Aufgeschlossenheit. Wenn Ema Mitten im Unterricht zur Wandtapete läuft und die Umrisse der Zeichnungen nachmalt, dann kommen andere Kinder dazu, machen mit. Die Lehrerin interveniert nicht. Ema beginnt in dieser Atmosphäre tatsächlich, sich zu öffnen. Sie ahmt Verhaltensweisen ihrer Mitschüler*innen oder ihres Vaters beim Essen nach. Sie kommuniziert. Der Durchbruch.
Eines Tages begegnet der Familie ein Pferd, sie nehmen es auf und Ema lächelt, wohl das erste Mal seit langem, wenn überhaupt in ihrem Leben. Die Mutter fängt an zu weinen, lacht, schaut den Vater an, der schaut zurück. Das ganze Bild ist voller Liebe und Wärme, ohne Pathos. Um das zu verstehen, dafür braucht es keine Sprache.
»Una escuela en Cerro Hueso« (Eine Schule in Cerro Hueso) der argentinischen Regisseurin Betania Cappato ist ein leiser Film mit seltsamen Schnitten. Die Mutter steht am Schulzaun und beobachtet die Kinder, Schnitt, Ema streichelt ihre Mutter, Schnitt. Was zunächst irgendwie wahllos erscheint, sind die unerhörten Kleinigkeiten, die das Leben der Familie bereichern. Das Besondere sind kurze Blicke, kleine Berührungen, Kieselknirschen, Grillenzirpen, eben keine monströsen Geburtstagspartys, Sportevents oder Urlaube im Familienhotel.
Dort, wo ihre Tochter sich wohlfühlt, kommen langsam auch die Eltern an, integrieren sich in die Dorfgemeinschaft und werden angenommen, obwohl alles auch anders hätte ausgehen können, wenn zwei Städter kommen und neue Ideen mitbringen. Aber der Film lebt von der Botschaft, dass alle gewinnen, wenn man Schubladen zulässt.
Emas Autismus ist kein Makel, sie ist kein Streichholz zählender Freak und der Film nicht daraufhin produziert, den Oscar einzuheimsen für diese gefühlvolle Performance. Es geht nicht um den langen, ausweglosen Kampf der Familie um Anerkennung und die Hürden, die die neurologisch »normale« Welt Ema in den Weg räumt. Es geht um Kleinigkeiten, die die Welt bedeuten können. Dinge, die an uns vorbeirauschen, weil wir keine Zeit mehr haben, auf sie zu achten. Das zeigt Cappato mit ungeheurer Zärtlichkeit für ihre Figuren und die Situationen. Der Film, der eine lobende Erwähnung der Jury in der Sektion Generation KPlus bekam, basiert auf ihrer eigenen Familiengeschichte. Cappatos Bruder lernte erst mit Beginn der Schule zu Sprechen, danach kamen langsam Lesen und Schreiben dazu. Die Schule wurde bekannter und viele Eltern mit ähnlichen Geschichten schickten ihre Kinder dorthin. Es hilft, nicht allein zu sein.
Am Ende sieht man Ema bei einer Schulaufführung. Sie läuft aus der Szene heraus und geht zurück zur Wandzeitung, malt die Umrisse der Zeichnungen nach. Andere Kinder und auch die Lehrerin folgen ihr. Ob das Teil des Stückes ist oder einfach passiert, ist egal. Es ist bezaubernd.
»Eine Schule in Cerro Hueso«: Argentinien 2021. Regie: Betania Cappato. Termin: 19.6., 21.45 Uhr,
Freiluftkino Rehberge.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.