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Leo Löwenthal schrieb einst über »Falsche Propheten« - eine aktuelle Ideologiekritik

  • Fabian Kunow
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Faschismusforschung der letzten 100 Jahre neu zu betrachten und zu veröffentlichen, ist ein sinnvolles Unterfangen. Vor allem dann, wenn es sich um Untersuchungen zum Faschismus als Bewegung handelt, also zu faschistischer Praxis und Ideologie vor ihrem Eintritt in eine Regimephase. Denn eine identische Wiederkehr der historischen, im 20. Jahrhundert an die Macht gekommenen Faschismen wird es nicht geben.

Zumal intellektuell gewinnbringend für die Leserschaft (und monetär gewinnbringend für den Verlag) ist es, wenn solche Schriften mit einem neuen Nachwort erscheinen: von »Theorie-Promis« mit Expertise zu heutigen Phänomen der extremen Rechten, die Jahrzehnte alte Texten aktualisieren, zueinander ins Verhältnis setzen und den historischen Hintergrund erläutern. Wie das geht, zeigt etwa der von 1967 stammende, bei Suhrkamp zuletzt neu aufgelegte Vortrag »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« von Theodor W. Adorno. Die Kombination aus eingängigem Adorno-Text und Nachwort des »Neue Rechte«-Kenners Volker Weiß führte die Publikation im Jahr 2019 in die Bestsellerlisten. Mittlerweile ist »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« in der sechsten Auflage erschienen.

Dechiffrierung der Gegenwart

Derzeit bekommen faschistische und rechtsradikale Agitatoren - ob nun QAnon-Anhänger, Pegida oder überdrehte Verschwörungsfans bei den »Querdenker«-Demos - wieder viel Raum. Der damalige Präsident der USA peitschte seine Anhänger gar auf, das US-Kapitol zu stürmen, um dann später nichts damit zu tun haben zu wollen. In solchen Zeiten bietet sich eine Neuerscheinung der Studie »Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation« des Literatursoziologen Leo Löwenthal an. Die Publizistin Carolin Emcke lobt »Falsche Propheten« in einem Nachwort als Klassiker, der nicht nur etwas über den spezifischen geschichtlichen Moment, sondern zugleich über unsere Gegenwart erzählt. Löwenthal entwickele Instrumente, stelle Methoden und Begriffe bereit, damit wir die eigene Zeit präziser »dechiffrieren und tiefer verstehen können«. Die Soziologin Eva-Maria Ziege bezeichnet Löwenthal in ihrem Forschungsbericht zu »Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil« als »treuen Fußsoldaten« des Instituts für Sozialforschung.

Als einer der letzten hatte Leo Löwenthal im Frühjahr 1933 Frankfurt, den Ursprungsort des Instituts für Sozialforschung, an dem er tätig war, verlassen. Er folgte über die Zwischenstation Genf dem restlichen Institut in die USA, das dort als Institute for Social Research seine Arbeit wieder aufnahm. Der Kreis von Wissenschaftlern, der bis heute den Namen »Frankfurter Schule« trägt, forschte dort in Kooperation mit US-amerikanischen und anderen exilierten Sozialwissenschaftlern zu Antisemitismus und Vorurteilen. Es ging darum, zu erklären, in welchen gesellschaftlichen Gruppen und Situationen es eine Affinität zu einer faschistischen Haltung gibt. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse zunächst auf Englisch in der Reihe »Studies in Prejudice«, in der 1949 auch Löwenthals Beitrag »Prophets of Deceit« erschien.

Anders als Adorno und andere Beteiligte an den »Vorurteilsstudien« schaute Löwenthal in »Falsche Propheten« nicht auf die Dispositionen für einen so genannten Autoritären Charakter, auf die Bereitschaft, antisemitisches Gedankengut zu teilen oder darauf, wer ein »potenzieller Faschist« sei. Nicht dem Bewusstsein, dem Denken und Fühlen bestimmter Ausschnitte der Bevölkerung näherte er sich an, beispielsweise mit Fragebögen und Skalenmodellen wie etwa der berühmten »Faschismus-Skala«, sondern - über die konkrete Beobachtung - dem faschistischen Agitator selbst.

Löwenthals Forschungsfeld sind »selbst ernannte Tribune«, die öffentlich Antisemitismus implizieren und aussprechen, Verschwörungsglaube anheizen, dem Irrationalismus und damit der Gewalt gegen bestimmte Minderheiten den Weg ebnen. Hierfür analysiert er Reden, Flugblätter und Artikel von rechtsradikalen Stimmungsmachern in den USA der 1940er Jahre. Sein Fokus liegt dabei auf »profaschistischen« sowie »antisemitischen« Äußerungen. Mit »profaschistisch« sind Agitatoren gemeint, die »offen ihrer Bewunderung für Hitler und Mussolini Ausdruck verleihen«, also mit den Kriegsgegnern der Alliierten im Zweiten Weltkrieg sympathisieren.

»Wir haben versucht, das zu extrahieren, was den verschiedenen Agitationstexten gemein ist«, heißt es im Vorwort zu »Falsche Propheten« von 1948. Auf dem Cover der amerikanischen Originalausgabe standen zwei Namen, hier allerdings macht das Wort »wir« stutzig: Gemeint sind Löwenthal und Nobert Gutermann, ein aus Polen stammender jüdischer Intellektueller, der auf Empfehlung von Max Horkheimer in den USA zum Institute for Social Research stieß. Gutermann hatte vorher in Paris gelebt und dort mit dem marxistischen Soziologen Henri Lefebvre zusammengearbeitet. In der im Jahr 1982 erfolgten Übersetzung der gesammelten Schriften von Löwenthal ins Deutsche »verschwindet« Gutermann allerdings, schreibt Ziege in »Antisemitismus und Gesellschaftstheorie«. Löwenthal wiederum wird mit »Falsche Propheten« zum Wegweiser der Literatursoziologie. »Verschwindet« Gutermann etwa, weil die »Frankfurter Schule« sich nur mit »echten Frankfurtern« verkauft?

Wiederentdeckung in der BRD

In der Bundesrepublik der 80er Jahre wird »Falsche Propheten« im Rahmen des damals neuen Studiengangs Massenkommunikation wiederentdeckt. Löwenthal hatte nämlich untersucht, wie die Massenkommunikation zwischen dem faschistischen Agitator und dem - bewusst begriffslos gehaltenen - Publikum funktioniert: über die Feindbildkonstruktionen gegen Linke, Flüchtlinge und Juden. Es sind die Techniken der Angstmache und der gegenseitigen Versicherung, ausgedrückt etwa in Wortschöpfungen wie »Jew Deal« für die »New Deal«-Politik des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Dass Löwenthal dabei die Figur des faschistischen Agitators deutlich abgrenzt von den Zielen und Herangehensweisen von Reformern und Revolutionären, sollte eine heutige extremismustheoretische Rezeption verunmöglichen.

Auf Unterschiede zwischen dem Aufruf des Agitators und dem charismatischen Evangelisten geht Löwenthal in »Falsche Propheten« leider nur kurz ein, dabei wäre doch gerade dies für die damaligen und vor allem die heutigen USA interessant. Zu lesen ist dazu immerhin Folgendes: »In einer Predigt richtet sich der Appell zur Bereitschaft an die Seele des einzelnen mit der Absicht, sein Gewissen und sein Über-Ich zu stärken; gleichermaßen bemüht sich auch der politische Reformer in der Regel um die Intensivierung des politischen Gewissens (…) Der Agitator hingegen, unter dem Deckmantel ebendiesen Anliegens, fordert seine Zuhörer nicht zu einer geistigen und gesellschaftlichen Bewusstseinsänderung auf, sondern lediglich dazu, alle Schuld, alle Verantwortung auf den externen Feind abzuladen.«

Eigentlich wäre eine Neuauflage von »Falsche Propheten« schon zu einem früheren Zeitpunkt wünschenswert gewesen: im Jahr 2014 beispielsweise, als in Gestalt der Pegida-Bewegung auf den Straßen ein rechter Populismus auftrat. Diese Rechten grenzten sich von Neonazis ab, posaunten aber - mit wöchentlich wechselnden Gastagitatoren - ein politisches Programm in die Welt, das Leo Löwenthal bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts als verbale »Generalprobe fürs Pogrom« identifizierte.

Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. Suhrkamp, 253 S., br., 15 €.

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