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Der letzte Leser oder der erste?

Annett Kruschke inszeniert am Theater Vorpommern »Fahrenheit 451«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Eines Tages stehen die Dinge als ihr eigenes Gegenteil vor uns. In »Fahrenheit 451« ist es die Feuerwehr, die keine Brände mehr löscht, sondern selbst Brände legt. Sie verbrennt das Gefährlichste, was aus der Vergangenheit noch überdauert hat: Bücher!

Diese führen bekanntlich zur Vereinzelung, wer liest, taucht in eine Welt ab, in der er für ideologische Parolen und Konsumterror schlicht nicht mehr erreichbar ist. In Büchern überdauern die Träume, die Verzweiflung und der Schmerz der Menschen. Oder, wie Kafka sagte, ein Buch müsse »die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«. Wenn etwas aber anfängt zu fließen, dann ist es nicht mehr kontrollierbar: Der passionierte Leser ist der autonome Mensch schlechthin, er bewegt sich gleichsam im herrschaftsfreien Raum, in seinem höchst individuellem Kommunismus.

Eine schöne Utopie? Ray Bradbury hat diese mit seinem Roman »Fahrenheit 451« zu Asche verbrannt, der vernichteten Bibliothek von Alexandria als Urkatastrophe der Buchkultur nachtrauernd. Und Francois Truffaut drehte nach dem Roman 1966 seinen legendär gewordenen Film mit Oskar Werner als Feuerwehrmann Guy Montag. Ein simpler Technokrat, der es mag, nach Kerosin, also nach ehrlicher Arbeit zu riechen. Brände gibt es in der Zukunft, in der dies hier handelt, nicht mehr: Die Häuser sind feuerfest, die Feuerwehr verbrennt Bücher. Denn diese stehen dem Glück der Masse entgegen.

Wer liest, der denkt, und wer denkt, ist selten mit der Gegenwart zufrieden. Also muss man den Leser kriminalisieren, als Störenfried isolieren und die Bücher, von denen er sich nährt, vernichten. Bei 451 Grad Fahrenheit, das sind 233 Grad Celsius, beginnt das Papier zu brennen.

Annett Kruschke, Volksbühnenurgestein, hat in den letzten Jahren eine Reihe bemerkenswerter Inszenierungen am Theater Vorpommern vorgelegt, zuletzt 2019 Heiner Müllers »Hamletmaschine«, der hier zum Störfall der Selbstinszenierung des untergangsseligen Intellektuellen wurde. Jetzt also diese totalitäre Vision vom simplen Glück für alle. In Stralsund und Greifswald laufen derzeit die letzten Inszenierungen der - ausgefallenen - Spielzeit unter Leitung des Intendanten Dirk Löschner, der das Theater Vorpommern verlässt und 2022 das Theater Plauen/Zwickau übernehmen wird.

Ein Verlust für Vorpommern, vor allem an jenen großformatigen Themen, die Löschner und sein Schauspieldirektor Reinhard Göber immer wieder forcierten, auch gegen Widerstände des unterhaltungsseligen Teils des Publikums. Künftig wird man hier noch regionaler werden. Und so läuft - nach der langen Corona-Pause - auch diese ebenso kluge wie bildmächtige Inszenierung nur drei Mal! Dann landet sie mitsamt der ganzen Jahresproduktion des Theaters Vorpommern in der Mülltonne. Das zum Umgang mit künstlerischen (und finanziellen) Ressourcen. Im Sommer kommt schon das neue Personal, alle kündbaren Schauspieler, auch die aus »Fahrenheit 451«, müssen gehen - welch Unkultur, aber kaum noch jemand nennt sie so.

Wir sind, und das ist das Erschreckende, bereits mitten in der Handlung von »Fahrenheit von 451«. Da geht es um Macht, Manipulation und Denunziation. Um die Zerstörung aller kulturell gewachsenen Werte, die mit auf der Buchkultur gründen, von Urteilskraft über Einfühlungsvermögen bis zur Mitleidfähigkeit. Die Solidarisierungsmöglichkeiten des Menschen! Und das eben nicht bloß digital in fiktionalen Räumen, sondern sehr real mitsamt Schmerz, Freude und Wut.

Die Bühne von Martin Fischer: eine Art aufgeschnittenes Ufo, das in Nebel, nein Rauch, getaucht ist. Eine unheilvolle Szenerie. Die Schauspieler beeindrucken in der ebenso szenischen wie gedanklichen Durchdringung des Stoffes. Vielleicht liegt das auch daran, dass die bereits vor einem Jahr abgeschlossene Inszenierung Corona-bedingt erst jetzt herauskommt. Die Ereignisse des letzten Jahres spielen hier also unsichtbar, aber jederzeit spürbar mit.

Felix Meusel ist der pflichteifrige Feuerwehrmann Montag, ein beschränkter Gefolgsmann des Hauptmanns Beatty, den Jan Bernhardt als machiavellistischen Vollstreckertyp gibt. Montag kann sich nicht einmal vorstellen, dass die Feuerwehr ursprünglich Feuer löschte, anstatt sie zu legen. Beatty, im ausforschenden Gespräch mit Montag, will wissen, was er an seinem freien Tag mache. »Rasen mähen«, bekommt er zur Antwort. Und wenn das gesetzlich verboten wäre? »Dann schau ich dem Rasen beim Wachsen zu.«

Wer so kompatibel zur Machtmachtmaschine zu sein scheint, dem steht bald eine Beförderung bevor. Darauf wartet vor allem Montags Frau Mildred (bei Truffaut heißt sie Linda), die den ganzen Tag damit verbringt, auf drei »Bilderwänden« Soaps anzuschauen. Wenn Montag befördert wird, dann endlich können sie sich eine vierte Bilderwand leisten! Die Pillen, die sie nimmt und die Bilder, die pausenlos um sie flackern, geben ihr die Illusion von Glück, das darin besteht, keinerlei Problem mehr zu haben. Ihre Lieblingssoap, das sei doch ihre eigentliche Familie.

Erstaunlich, dass diese digitale Untergangsvision über ein halbes Jahrhundert alt ist, da wusste man noch nicht von Apps, die diese Bilderwelten immer dichter verknoten. Feline Zimmermann, die in den letzten Jahren (das wahre Glück eines Ensembles!) eine eindrucksvolle Entwicklung genommen hat, zeigt uns Mildred als eine in das Stereotyp von Glück verkrampfte Barbie-Puppe, die letzte unkontrollierte emotionale Aufwallungen entschlossen mit noch mehr Tabletten niederkämpft.

Die neue widerspruchsfreie Welt könnte so schön sein, wenn nicht plötzlich das Buch im Leben Montags auftauchen würde - mit der Lehrerin Clarissa (Melina Sanchez). Sie hat die »Gesinnungsprüfung« nicht bestanden und darf nicht mehr arbeiten. Sie ist nicht systemkompatibel, nicht folgsam, sondern stellt eigensinnig ihre eigenen unbequemen Fragen. Sie liest verbotenerweise Bücher und hat keine Lust darauf, deren Reichtum (die Komplexität der Vorstellungen) gegen einfältige Ersatzprodukte einzutauschen. Dieser unideologische Mensch schlechthin beeindruckt Montag, der nun selbst beginnt zu lesen. Was für eine Emanzipationsgeschichte: Das Funktionselement aller Macht wird lesend zum Vollmenschen!

Am Ende flüchtet der von Mildred als Leser denunzierte Montag zu den Buchmenschen in die Wälder. Dort leben die vernichteten Bücher weiter, denn jeder der dort Versteckten lernt eines seiner Lieblingsbücher auswendig.

Eine Anti-Utopie von gestern, von Annett Kruschke eindrucksvoll auf ihre Gegenwärtigkeit hin befragt. Ist sie nicht längst von der Realität überholt worden? Technisch gewiss, aber die Bücher werden heute weder zensiert noch vernichtet - sie haben nur weitgehend ihre widerständige Bedeutung verloren, werden in Bilder- und Informationsfluten marginalisiert.

Doch vielleicht gibt es den passionierten Leser ja doch noch im Verbogenen? Vielleicht vermag er andere zu faszinieren - und dazu zu bringen, ihr Leben zu ändern?

29. Juni, 20 Uhr, Rubenowsaal (Stadthalle), Greifswald

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