- Kultur
- »Vor mir der Süden«
War es damals ein besseres Italien?
Ein Dokumentarfilm auf den Spuren von Pier Paolo Pasolini: »Vor mir der Süden« von Pepe Danquart
Da fährt jemand auf den Spuren eines anderen durch die Welt, wenn auch nur durch einen speziellen Teil von ihr: Italien! Das hat unter Deutschen Tradition, selbst wenn man früher nicht fuhr, sondern zu Fuß ging, dann hatte man mehr davon. Wer folgte nicht schon alles Goethe auf seinen Italienreisen oder ging mit Seume und seinem Klassiker »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802« einfach mal los, immer gen Süden? Von Sachsen aus Arkadien mit der Seele suchen!
Auch Hermann Hesse wanderte kurz nach 1900 noch zu Fuß nach Italien - einige Jahre darauf war plötzlich alles anders, nur noch hartgesottene Nostalgiker fühlten sich hier wohl, den anderen war jetzt - wie Hesse in den 20er Jahren - eher nach einer Jagd auf Automobile. Fellini hat über die Auto-Apokalypse der italienischen Hauptstadt mit »Fellinis Roma« einen ebenso melancholischen wie witzigen Film gemacht, der sich an einem Bild von Italien abarbeitet, das längst nicht mehr stimmt.
Doch »Vor mir der Süden« von Pepe Danquart ist anders. So anders wie es auch derjenige war, dem er nun durch das Italien der späten 50er Jahre folgt: Pier Paolo Pasolini. Von ihm las er vor einigen Jahren das Buch »Die lange Straße aus Sand: Italien zwischen Armut und Dolce Vita«. Das sind Pasolinis Notizen von unterwegs, als er 1959 in seinem Fiat Millecento 3000 Kilometer von Ventimiglia bis an den südlichsten Punkt Siziliens (und im weiten Bogen wieder zurück) fährt. Er will das Italien im Umbruch der Industrialisierung verstehen, spricht mit Reichen wie Armen, sucht Drehorte.
Nun also fährt Pepe Danquart, ebenfalls mit einem Fiat Millecento (inzwischen ein gesuchter Oldtimer), begleitet von zwei Kamerawagen die gleiche Strecke noch einmal ab. Es ist eine Annäherung an das Italien von damals und heute - natürlich auch an Pasolini, den Intellektuellen, Dichter und Regisseur, der in kein Schema passt. Die Kommunisten schlossen ihn wegen »dekadenter« Positionen aus ihrer Partei aus, sie mochten auch keine Homosexuellen. Die katholische Kirche hasste ihn ohnehin, gerade weil ihm Christus wichtig war, er ihn in »Das 1. Evangelium - Matthäus« von 1964 als Proletarier darstellte und folgerichtig mit einem Laien besetzte. Wegen seines letzten Films, »Die 120 Tage von Sodom« von 1975, beschimpften ihn Konservative wie Linksliberale gleichermaßen; hier versetzte er de Sade in die faschistische »Republik von Salò«, die von 1943 bis 1945 bestand und Mussolinis letzter Rückzugsort war. Ein Hort des Sadismus, anhand dessen Pasolini Machtstrukturen aufzeigen wollte, die immer aufs Neue ins Totalitäre zielen. Im gleichen Jahr wurde Pasolini ermordet. Man weiß bis heute nicht (oder will es nicht wissen), ob dieser als Mord im Strichermilieu inszenierte Tod politische Hintermänner hatte.
Pasolini, der Ketzer jeder Lehre und Feind aller Ideologie, verachtete die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft. Er suchte sich seine Freunde unter den Außenseitern: den Obdachlosen, den Prostituierten und Strichern, ehemaligen Sträflingen, Müllsammlern und Wanderarbeitern. Danquart liest die Reisenotizen und trifft Menschen, die sich noch an Pasolini erinnern können. Es sind erstaunlich viele. Halbe Kinder damals, die auf Müllplätzen Metalle sammelten und in Elendsquartieren hausten, trafen mit Pasolini jemanden, der sie als Menschen ernst nahm. Einer von ihnen, heute ein alter Mann, rezitiert in Danquarts Kamera frei ein sehr langes Pasolini-Gedicht. Aus dem Müllplatzkind wurde in der Begegnung mit einem Künstler selbst eine Persönlichkeit - was für eine Utopie steckt doch hierin! Aber sie scheint verloren, wie Pasolini wohl selbst ahnte. Nur in einigen alten Arbeitern lebt noch die Hochachtung für jemanden wie Pasolini weiter - ein Intellektueller, der doch zu ihnen gehörte!
War es damals ein besseres Italien? Nein, nicht einmal so sehr anders als heute war es. Danquart erlebt den Riss zwischen Nord- und Süditalien, wie ihn Pasolini beschrieb, der immer noch da ist, wohl stärker denn je. Damals kamen gerade die ersten Süditaliener, junge Männer auf der Suche nach Arbeit, nach Mailand und Turin. »Da kommen die Afrikaner!«, so lauteten die hämischen Kommentare. Und so ist es geblieben, wer konnte, ging weg aus Gegenden, wo keine Hoffnung mehr war. Bis heute verlieren die Dörfer in Kalabrien ihre Jugend an den Norden. Hinter Rom, das ist der Befund von Pasolini und Danquart gleichermaßen, beginnt das Elend. Zerstörte Landschaften, Industrieruinen, Armut und alte Menschen - aber keine Arbeit. Nicht einmal der Massentourismus wagt sich an die Strände Kalabriens.
Für Danquart ahnte Pasolini die großen Flüchtlingsströme von heute voraus. Das Mittelmeer jedenfalls hat seine Unschuld verloren, die Wiege der europäischen Kultur ist auch ein riesiger Friedhof. An den Küsten des Nordens dagegen baute man Badeorte, für den Massentourismus wie man Fabriken baut: Jesolo oder Rimini - auch sie sind heute, wie das ganze Land, in der Krise. Denn da ist nichts Gewachsenes, nur Bettenburgen ohne Schönheit und Seele.
Immer wieder trifft Danquart nicht nur auf Bewunderer des alten Fiat, der in der Provinz umlagert wird, sondern auch auf kritische Bürger, die den Glauben an die Parteien-Demokratie ebenso wie an Europa verloren zu haben scheinen. Woran soll man noch glauben? Aber vielleicht ist die Frage falsch gestellt, vielleicht müsste sie heißen: Was soll man auf keinen Fall glauben? Die Strukturen der Ausbeutung von Mensch und Natur haben sich in den letzten 60 Jahren, seit Pasolinis Reise durch ein Italien, das sich im Aufbruch wähnte, nicht verändert. Wohlstand für alle? Eine Illusion, Lüge gar. Die Besitzenden sind Besitzende geblieben, Besitzlose blieben besitzlos - und Ausnahmen bestätigen diese Regel nur. Doch etwas vollzog sich in diesen Jahrzehnten unaufhaltsam: die Verwandlung von Arbeitern in Kleinbürger.
Viele der Menschen hier, die Danquart nach Pasolini fragt, sagen darum, er habe recht gehabt damit, dass Italien vom Faschismus Mussolinis nicht zerstört werden konnte, aber dafür umso mehr vom nun herrschenden Konsumismus, der Menschen in bloße »Roboter« verwandle. Auch das sei eine Art von Faschismus.
In ständiger Zwiesprache mit Pasolinis Text und den Bildern von unterwegs vor Augen gelingt Danquart ein sehenswerter filmischer Essay über die Verwerfungen nicht nur der italienischen Gesellschaft zwischen Nord und Süd, sondern auch über eine Globalisierung, die die Welt immer weiter in einen armen und einen reichen Teil teilt.
»Vor mir der Süden«: Deutschland 2020. Buch und Regie: Pepe Danquart. 117 Min. Jetzt im Kino.
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