- Politik
- 20 Jahre G8-Gipfel in Genua
Unvorstellbar brutal
Polizeieinheiten fielen in der Diaz-Schule über Demonstrierende her. Ein Betroffener erinnert sich
Der Polizeiüberfall in der Turnhalle der Diaz-Schule in Genua vor 20 Jahren traf mich weitgehend unvorbereitet. Ausgelaugt von den vorangegangenen Tagen des Widerstands gegen das Treffen der G8-Staatschefs in der italienischen Hafenstadt hatte ich auf ein paar Stunden Ruhe gehofft, als ich meinen Schlafsack auf dem Sportboden zwischen dem bunt gemischten Haufen von Demonstrant*innen und unabhängigen Medienaktist*innen aufschlug. Zuvor war ich immer wieder im gegenüberliegenden unabhängigen Medienzentrum gewesen, um die Arbeit der Medienaktivist*innen zu unterstützen.
Wir berichteten von den Demonstrationen und Blockaden der globalisierungskritischen Bewegungen gegen die Machtdemonstration der versammelten Regierungschefs. Ermutigt von den Protesten gegen die neoliberale Globalisierung der Vorjahre waren wir zum »Summer of Resistance« nach Genua gereist. Gegengipfel, Kulturprogramm und Vernetzung waren vorangegangen. Wir waren viele, und mit unseren Aktivitäten in der Stadt brachten wir die Mächtigen in ernsthafte Bedrängnis. Es folgten aber brutale und hemmungslose Gewaltorgien durch Polizeieinheiten. Wir waren entsetzt von der Ermordung des Aktivisten Carlo Giuliani durch einen Carabiniere. Bis heute wurden die Umstände der Tat nicht vollständig aufgeklärt.
- Mittwoch, 18. Juli
Der Piazzale Kennedy tanzt sich in Ekstase. Zehntausende Menschen sind gekommen, um Künstler wie Manu Chao, Radio Bemba oder 99 Posse zu hören. - Donnerstag, 19. Juli
Rund 60 000 Menschen demonstrieren für die Rechte von Migranten und Schutzsuchenden. Antirassistische Gruppen, Gewerkschaften und kirchliche Organisationen beteiligen sich an dem Protestzug, Migranten führen die friedliche und bunte Demonstration an. Von senegalesischen Trommelgruppen über nigerianische Oppositionelle, kurdische PKK-Sympathisanten und Roma-Initiativen bis hin zu türkischen Kommunisten sind verschiedenste Welten vertreten. Tausende singen die Partisanenhymne »Bella Ciao«. - Freitag, 20. Juli
Verschiedene Proteste mit unterschiedlichen Konzepten sind in jeweils unterschiedlichen Teilen der Stadt geplant. In der Praxis wird es jedoch schnell unübersichtlich. Seit dem Morgen ziehen Anarchisten in einem Schwarzen Block durch die Stadt. Sie liefern sich am Rande der »Roten Zone« Auseinandersetzungen mit der Polizei und begehen Sachbeschädigungen. Zeitgleich demonstriert ein »Pink-Silver«-Block mit fantasievoller Kleidung, Püscheln und Sambamusik. Nichtregierungsorganisationen wie attac aber auch die italienische Basisgewerkschaft der Cobas haben einen eigenen Treffpunkt. Das Lilliput-Netzwerk der gewaltfreien katholischen Basisorganisationen versucht eine Sitzblockade. Die »Tute Bianche« wollen später in einem eigenen Protestzug mit weißen Overalls und Schutzausrüstung zivilen Ungehorsam leisten. - Freitag, 20. Juli, Nachmittag
Teile der Proteste verlaufen friedlich, andere militant, die Polizei differenziert nicht. Brutal werden überall in der Stadt zahlreiche Demonstranten zusammengeschlagen, ungeachtet ihrer Aktionsformen. Polizisten verschießen Hunderte Gasgranaten, dazu kommt es zum Einsatz von Schutzwaffen. An der Demo der Tute Bianche, aus dem Stadion Carlini kommend, nehmen 15 000 Menschen teil. Das Ziel lautet, mit defensiv-offensiven Mitteln Polizeireihen zu durchbrechen und in die Rote Zone einzudringen. Als der Protestzug in die Innenstadt kommt, beginnt die Polizei sofort, die Spitze der Demonstration heftig zu attackieren. Sie schießt Tränengas in die bis dahin friedliche Menge und fährt mit Panzerwagen in diese hinein. Teile der Demonstranten bauen Barrikaden und setzen sich mit Steinwürfen zur Wehr, als das Konzept des zivilen Ungehorsams nicht mehr länger möglich ist. Am Rande der Demonstrationsspitze wird gegen 17.30 Uhr der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen. Er soll sich mit einem Feuerlöscher auf ein Polizeifahrzeug zubewegt haben. Die Demonstrationsleitung beschließt den Rückzug ins Stadion. - Samstag, 21. Juli
Rund 300 000 Menschen protestieren in der Stadt. Polizisten attackieren Teile der Demonstration mit Tränengas und Wasserwerfern, auch Journalisten werden verprügelt. Anwohner unterstützen die Protestierer mit Trinkwasser und Obst, einige helfen mit Fluchtwegen. An der Piazzale Martin Luther King werden Läden verwüstet und Autos in Brand gesetzt. Am Hafen kommt es zu Auseinandersetzungen. - Nacht zu Sonntag, 22. Juli
Um 23.56 Uhr stürmen Einheiten der italienischen Polizei die Schule A. Diaz, in der Aktivisten und Journalisten übernachten. Dutzende Menschen werden blutüberströmt aus dem Gebäude hinausgetragen. Einige werden ins Koma geprügelt, mehrere Personen lebensgefährlich verletzt, viele von ihnen inhaftiert. Angereiste Demonstranten versuchen, die Stadt möglichst schnell zu verlassen. nd
Der Schock von Carlos Tod am Freitag und die anschließenden brutalen Polizeieinsätze auf der Straße saß uns allen noch in den Gliedern, und auch ich war froh, am Samstag noch ein paar bekannte Gesicherter in der Turnhalle anzutreffen, mit denen ich mich über die Ereignisse austauschen konnte. Viele wollten die Stadt nur noch verlassen. Doch die Situation war unübersichtlich, und so entschied ich mich, lieber die Nacht in der Nähe des Medienzentrums zu verbringen und erst am nächsten Tag die Rückreise nach Berlin anzutreten.
Steiles Machtgefälle
Die brutale Repression während des G8-Gipfels von Genua vor 20 Jahren blieb für die Täter meist folgenlos
Eine schicksalhafte Entscheidung: Kaum hatte ich mich in meinen Schlafsack zurückgezogen und die Augen geschlossen, wurde ich von lautem Rufen und einer großen Aufregung geweckt: Polizeieinheiten waren vor der Schule aufgefahren. Viele waren alarmiert. Was dann geschah, wurde später oft als »chilenische Nacht« bezeichnet, am Ende gab es 81 Verletzte, 63 davon schwer. Die Brutalität des Überfalls auf unser Nachtlager überstieg auch meine Vorstellungskraft; eine solche Gewalt hielt ich im Europa des Jahres 2001 für undenkbar. Die verstörenden Vorgänge, geprägt von körperlicher und psychischer Gewalt bis hin zur gezielten Folter, werden mir und den anderen Betroffenen wohl für den Rest des Lebens in Erinnerung bleiben.
Immer wieder kehrt der G8-Gipfel von Genua in meine Erinnerung zurück, damit abschließen habe ich noch nicht können, denn die juristische Aufarbeitung der Ereignisse in Italien dauert noch immer an. Aber heute steht beim Gedanken an Genua 2001 nicht mehr die Gewalt an erster Stelle, sondern es ist die Solidarität, an die ich zuerst denke. Sie prägt uns und verleiht uns Kraft für die wichtigen, aber ungeheuer langwierigen Prozesse der Aufarbeitung.
Drei Ebenen sind dabei von zentraler Bedeutung: Die Solidarität mit allen Betroffenen der staatlichen Repression, die während oder infolge der Proteste inhaftiert und angeklagt wurden. Darüber hinaus wollen wir den herrschenden Täter*innen nicht die Geschichtsschreibung über die Ereignisse überlassen. Und natürlich wollen wir auch den italienischen Staat juristisch in die Verantwortung für die begangenen Verbrechen bringen.
Bereits unmittelbar nach den Ereignissen hatte sich juristische Hilfe vor Ort zusammengefunden. Sie erreichte, dass ich und die anderen Aktivist*innen aus der Diaz-Schule fünf Tage nach dem Überfall aus dem Gefängnis herauskamen. Sie gründete ein internationales Netzwerk für Rechtshilfe, Dokumentation und Solidaritätsarbeit. In deren Räumen trafen wir uns in den folgenden Jahren oft: Aktivist*innen, Angeklagte und Opfer von Repression kamen hier nicht nur zu Gerichtsprozessen zusammen, sondern wir trafen uns auch zu den Jahrestagen der Proteste. Ein unglaublicher Wust von Videomaterial und Dokumenten wurde in dem Büro gesichert, gesichtet und aufbereitet, um vor Gericht und in der Öffentlichkeit den Anklagen und der fortwährenden Propaganda der Polizeibehörden informiert entgegentreten zu können.
Oft stand ich verblüfft in den Räumen der Rechtshilfe in der Via San Luca mitten in der Genueser Altstadt, direkt am Hafen. Hunderte von Aktenordnern und Videokassetten waren dort in großen Regalen archiviert. Zahlreiche Aktivist*innen unterstützten das Büro nicht nur finanziell, sondern auch durch Informationsveranstaltungen, Pressearbeit und sie organisierten die Beherbergung der Betroffenen. Immer wieder reiste ich zu Prozess- und Jahrestagen nach Genua, wo ich bei Aktivist*innen zu Gast sein konnte.
Auch in Deutschland und den anderen europäischen Ländern, aus denen die Betroffenen der Polizeigewalt kamen, hatten sich Solidaritätsnetzwerke gegründet, die Spendengelder sammelten und die italienischen Helfenden unterstützten. Zwar gelang es den Anwält*innen, dass die Anklagen gegen uns Betroffene des Überfalls auf die Diaz-Schule eingestellt wurden, doch andere gerieten immer stärker in Bedrängnis. Schmerzlich war es, dass es uns nicht für alle gelang, eine Verurteilung zu verhindern; einige mussten auch langjährige Haftstrafen antreten.
Ganz anders verlief die Aufarbeitung der Polizeigewalt. Sie verlief schleppend. Wohl konnten wir verhindern, dass diese komplett ungeschoren aus der Sache heraus kam. 13 der 29 angeklagten Polizisten wurden für den Angriff auf die Schule verurteilt. Eine langjährige Haftstrafe musste am Ende der Prozesse aber niemand antreten. Vielmehr mussten wir beobachten, wie die Regierenden und ihre Behörden die Täter*innen mit Beförderungen und großzügigen Umverteilungen von Posten bedachten.
Nur die Arbeit des unermüdlichen und kein Risiko scheuenden Staatsanwalts Enrico Zucca ermöglichte eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse und brachte Verantwortlichkeiten und den verbrecherischen Plan der Polizeieliten und deren Hintermännern zutage.
Viele Opfer der Polizeibrutalität in der »chilenischen Nacht« kämpfen noch heute in Zivilprozessen um ihre Entschädigung für die erlittenen körperlichen und psychischen Schäden. 2017 verurteilte der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Italien aufgrund unserer Klage wegen der Folterereignisse in der Polizeikaserne von Bolzaneto, in die auch Festgenommene der Diaz-Schule kamen. Italien hatte zwar die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen unterschrieben, diese aber nie in nationales Recht umgesetzt. So blieb uns nur der Europäische Gerichtshof, um die Folter, der wir dort ausgesetzt waren, anzuklagen.
Meine Prozesse sind inzwischen alle beendet. Ironischerweise entschied das italienische Berufungsgericht, die mir vom Europäischen Gerichtshof zugesprochene Entschädigung von der zivilrechtlichen Entschädigung aus den anderen italienischen Prozessen abzuziehen. Die absurde Begründung lautete, diese sei bereits im anderen Urteil entschädigt worden. Doch konnten wir ja nur in Straßburg klagen, weil die Tatbestände eben gerade nicht in Italien behandelt wurden. Noch immer scheint in italienischen Gerichten nicht angekommen zu sein, dass Folter schlimmer ist als eine einfache Körperverletzung und entsprechend härter bestraft wird.
Am Ende hat sich bewahrheitet, was mir die italienischen Anwält*innen bereits am Anfang der Prozesse prophezeit hatten: In Italien gewinnt man einen solchen Prozess nicht nur in der dritten Instanz, sondern auch in der dritten Generation.
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