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Auferstehung der atmenden Körper
Virtuose Kakophonie: Marta Górnicka zeigt mit »Still Life« am Maxim-Gorki-Theater einen präzisen Chor-Abend mit teilweise provokanten und problematischen Thesen
Wie wird man einmal auf uns zurückblicken, als letzte Vertreter einer alten Welt oder Pioniere einer neuen? Vermutlich auf Übergangsgestalten, die Bruchstücke des Gestern und des Morgen in sich trugen - doch mit diesem paradoxen Zugleich für ihre Gegenwart nicht viel anfangen konnten. Aber wird es in der heraufziehenden digitalen Welt, in der alles der Gewalt des Augenblicks unterworfen ist, überhaupt noch so etwas wie eine Kultur der Erinnerung geben?
Das Zugleich von Weltpartikeln ist eines der Themen der polnischen Autorin und Regisseurin Marta Górnicka, die mit »Still Life« am Gorki-Theater einen einstündigen Abend für Chor auf die Bühne bringt, für den sie auch den Text (hier »Libretto« genannt, aber eine Oper ist es nicht) schrieb. Acht Schauspieler und Schauspielerinnen stehen auf der Bühne und suchen zu den neben ihnen Stehenden Kontakt, mittels rhythmischer Bewegung ihrer Körper und etwas, das sie auch dann verbindet, wenn sie unbeweglich stehen: des Atems. Man erinnere sich des Aufsatzes von Ingeborg Bachmann über den Atem der Callas, der Teil ihres einmaligen Gesangs wurde. Der Atem ist eine Urgewalt, die über uns hinaus geht. Die Welt atmet und wir leben, solange wir diesen Atem teilen.
Einen Chor, zumal einen so hochdynamischer wie diesen, auf der Bühne zu sehen, wird zum Hoffnungszeichen. Denn das Coronavirus zielt auf die Lunge und damit auf den Atem. Die Versuche, sich vor ihm zu schützen, schränkten paradoxerweise ebenfalls den Atem ein. Nicht nur durch allgegenwärtige Schutzmasken, sondern auch durch das Verbot von Chören aller Art, da gemeinsames Singen (oder wie hier: chorisches Sprechen) besonders viele Aerosole freisetzt. Medizinisch mag das richtig sein, aber für den isolierten Körper und Geist war diese Zeit eine schwere Belastung. So also wird dieser Abend auch zur Wiederauferstehung der kollektiv atmenden Körper im Chor.
Chorisches Sprechen auf der Bühne, wie es etwa Einar Schleef perfektionierte, läuft immer aufs Neue auf ein Experiment hinaus. Denn es wird keine Geschichte erzählt, eine Dramaturgie im engeren Sinne gibt es auch nicht. Statt durch Handlung interagieren die verschiedenen Sprecher mal allein, mal in kleinen Gruppen, mal als einzige Chorstimme durch vorgetragene Textblöcke, die sie in hoher Frequenz in den Raum stellen. Da wird alles zu einer Frage von Choreografie (Anna Godowska), Tempo und Rhythmus.
Um es gleich zu sagen: Dieser Chor aus dem Ensemble des Gorki-Theaters agiert hochvirtuos und absolut präzise. Da vervielfältigen sich die einzelnen Stimmen zu einem machtvollen Trio oder einem Quartett, mal miteinander, mal gegeneinander, die Stimmen agieren wie Instrumente in einem sinfonischen Konzert. Gelegentlich überschlagen sie sich, wenn alle zugleich sprechen: eine wohlkalkulierte Kakophonie.
Wollte man den Gegenstand dieses Chores genauer beschreiben, was nicht leicht fällt, denn der Abend ist sperrig und reißt Verständnisbrücken immer wieder rigoros ein, müsste man von einem postmodernen Requiem sprechen. Der Zuschauer soll darin nicht über den Schmerz belehrt, sondern in dem, was er zu wissen meint, verunsichert werden. Auch der Weg des Einzelnen durch das Unterholz konkurrierender Bedeutungen ist hier nichts, was man unwidersprochen hinnehmen soll. Denn es kann sein, dass es sich um eine Täuschung handelt, eine große Manipulation, vor der man auf der Hut sein sollte - egal, mit welch hohen moralischen Ansprüchen diese auftritt.
Insofern ist dieser Chor, der gelegentlich etwas von Guerilla-Truppe, dann wieder etwas von Prophetenaufmarsch hat, durchaus theatertauglich.
Rückblick auf den Menschen, das Leben vom Tode her - so die Perspektive von »Still Life«. Der Philosoph Günther Anders hatte in seinem Hauptwerk »Die Antiquiertheit des Menschen« von 1987 bereits Menschheitsgeschichte vor dem Hintergrund der Möglichkeit der atomaren Selbstzerstörung der Gattung und der realen Scheinwelt der Medien beschrieben.
Reden wir also über Menschheitsgeschichte wie über ein »abgeschlossenes Sammelgebiet«? Das auch, aber vor allem über eine allgegenwärtige Lebenssimulation, die an Stelle des Lebens selbst tritt. Da gelangen wir in Bereiche, wie sie Michel Houellebecq in »Die Möglichkeit einer Insel« beschrieb: Die des geklonten Menschen in der x-ten Generation, der weder lebt noch tot ist. Eine Geschichte der Untoten, beziehungsweise das Aufhören aller Geschichte in der permanenten digitalen Vergegenwärtigung.
Einatmen: »Wir sind in der Gewalt enthalten und die Gewalt ist enthalten in uns«. Ausatmen: Stimmt das? Manches bei diesem mitunter auch atemlos agierenden Chorstück ist von einem Text bestimmt, in dem man sich sehr viel mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen wünschte. Pausen zum Nachdenken! Zumal bei so hochproblematischen - und forciert provokanten - Satzschleifen wie diesen, die ich jedenfalls nicht unwidersprochen hinnehmen will.
Dann etwa, wenn aus dem »Holocaust« im Singular ein »Holocaust« im Plural wird. Wohin führen diese Relativierungen? Warum lässt sich Marta Górnicka zu einer derartigen Rhetorik hinreißen, wie dieser im »Chor der Mütter, die den Holocaust überlebt haben«? »Deutschland ist heiliger als der Papst, hier lässt man nur einen Holocaust als Holocaust gelten. Den, der in der Schule unterrichtet wird, von dem in Büchern und Zeitungen die Rede ist. ... Alles wiederholt sich und am häufigsten: Auschwitz!«
Weiß die Autorin nicht, dass sie sich mit ihrem »Holocaust im Plural« vor dem Hintergrund des Historikerstreits von Mitte der 80er Jahre, in dem es um eben die Singularität der fabrikmäßigen Judenvernichtung ging, auf die Seite von Autoren wie Ernst Nolte und Michael Stürmer - und etwa gegen Jürgen Habermas - stellt? Autoren der Neuen Rechten hatten argumentiert, dass die Vernichtungslager der Nazis ihre Vorläufer in Stalins Gulags fanden, es sie ohne diese also nicht gegeben hätte. Will das Gorki-Theater, eine profilierte Stimme kultureller Vielgestaltigkeit, hieran anschließen? Gewiss, die Bühne ist kein Hörsaal, hier herrscht die Freiheit, Unvernünftiges und Unmoralisches zu sagen, sonst gäbe es kein Theater.
Jedoch ähnelt »Still Life« mit seinem »Libretto« sehr einer Vorlesung im Animationsmodus. Die Natur werde nicht nur permanent ausgebeutet, sondern finde sich von der Wissenschaft in Glaskästen archiviert wieder. Da lebe nichts mehr.
Ein wichtiger und wohl auch theatertauglicher Ansatz - jedoch wünschte man ihn sich sinnlicher und spielerischer durchgeführt. Und selbst, wenn es mal skurril wird, wie beim »Song für Bobby«, dem Gorilla, der ein »Superstar der Präparationskunst« sei, wird es sofort wieder abstrakt vorhersehbar: »Ich bin Bobby! Der unsterbliche Gorilla des Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchats!« Kann man das auch origineller formulieren? Das Programmheft zu »Still Life. A Chorus for Animals, People and all other Lives« ist eine Art Handbuch für diesen Abend. Wenn man lange Erklärungen dafür braucht, was man doch selbst sehen und hören kann, was fehlt dann?
Der Absprung vom Oberseminar Theaterwissenschaften mit seinen permanent zitierten Schutzgeistern Judith Butler und Giorgio Agamben ins kalte Wasser des eigenen Ausdrucks! So aber wirkt der hier - sehr gut! - gesprochene Text immer irgendwie geborgt, geradezu scholastisch, eine bloße Auslegung, der es an eigenem Esprit mangelt. Führen all die theoretischen Entwürfe, die rund um das Gorki-Theater eine Rolle spielen, am Ende zu einem Thesentheater, einer Verkopfung, der man dann nicht gern zuschaut?
Das liegt nicht an den Schauspielerinnen und Schauspielern. Sandra Bourdonnec, Lindy Larsson Forss, Hila Meckier, Gian Mellone, David Jongsung Myung, Vidina Popov und Rika Weniger (alternierend mit Thekla Hartmann) gelingt in »Still Life«, als Einzelne im Chor erkennbar zu bleiben.
Zwischen den Zeiten. Beim Theaterfestival in Avignon stellt sich der künftige Leiter Tiago Rodrigues mit Anton Tschechows »Der Kirschgarten« vor, Isabelle Huppert beeindruckt in der Hauptrolle
Am Ende des Abends tritt Sesede Terziyan, Frontfrau im Gorki-Ensemble, vor und begrüßt zum Saisonstart. Sie tue das in Abwesenheit von Intendantin Shermin Langhoff und der gesamten Theaterleitung, die sich gerade in Corona-Quarantäne befände. Man sieht diese starke Frau (Tochter armenischer Eltern aus der Türkei), eben noch im Chor und weiß genau: Das Theater ist immer das der Spielerinnen und Spieler.
Nächste Vorstellung: 5.9., 19.30 Uhr
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